: Auf Krankenschein zum Medizinmann
Fast jeder schwarze Südafrikaner geht einmal im Leben zu einem traditionellen Heiler. Auch in Johannesburg praktizieren Tausende sogenannter Sangomas, die nun staatlich anerkannt werden möchten ■ Aus Johannesburg Kordula Doerfler
Im Wartezimmer von Robert Motakle ist die Luft zum Schneiden dick. Die Stühle reichen für den Andrang der Patienten bei weitem nicht aus. Geduldig stehen die Wartenden bis auf die Straße hinaus. Nur die Frauen dürfen sitzen. Mandwa Lamushu fächelt sich in der sommerlichen Schwüle Luft zu. Der Magen zwickt wieder einmal höllisch. Sie wartet schon seit zwei Stunden, aber das nimmt sie in Kauf.
„Kein Arzt konnte mir helfen“, sagt die 45jährige Bankangestellte. Jetzt schwört sie auf den Meister hinter der kleinen Tür. „Seitdem mich Motakle behandelt, ist es viel besser geworden.“ Dafür nimmt sie sogar den weiten Weg auf sich. Zwei Stunden dauert es, um mit verschiedenen Sammeltaxen vom schwarzen Township Soweto bis ins Stadtzentrum von Johannesburg zu kommen.
Was ihr genau verordnet wird, weiß Mandwa Lamushu nicht. Dreimal am Tag muß sie zerstoßene Kräuter mit etwas Wasser anrühren. Die Mischung hütet der Meister streng, und er will auch nicht über sich und seine Methoden sprechen. Nach einem schüchternen Händedruck verschwindet er wieder in seinem Behandlungszimmer. Die Tür bleibt für die neugierigen Besucher verschlossen.
Das Wartezimmer ist so kahl und nüchtern wie das eines jeden einfachen Arztes. Motakle aber ist kein herkömmlicher Arzt, der an einer Universität studiert hat. Er ist ein Sangoma, ein traditioneller Heiler.
Seine Praxis liegt am westlichen Rand der City. Den Weg dorthin finden allerdings nur Ortskundige. Rundherum schraubt sich ein Gewirr von häßlichen Autobahnen in die Höhe, auf Betonpfeilern gebaut. Der Lärm ist ohrenbetäubend, die Luft vom Großstadtverkehr verpestet. Nur ein Weg auf einer schmalen Straße führt auf das Gelände, auf dem die Praxis liegt. Nebenan, in den Nachbarhäusern, gibt es Dutzende von ähnlichen Praxen, dazwischen Geschäfte, in denen sich streng riechende Waren bis an die Decke türmen.
Die meisten weißen Johannesburger kennen den „Mai Mai“- Markt in dem kleinen geschlossenen Karree nicht. Vermutlich wären sie überrascht von so viel Exotik mitten in der Großstadt. Die Stadtverwaltung indessen hat noch zu Apartheidzeiten das Gelände mit kleinen einstöckigen Ziegelhäusern zur Verfügung gestellt, um ein Zentrum für traditionelle Medizin und afrikanische Kultur zu schaffen. Das Konzept hat sich bewährt. Weil die Mieten für die kleinen Ladenräume niedrig sind, herrscht kein Mangel an Interessenten, und erst kürzlich wurde Geld für ein umfangreiches Sanierungsprogramm bewilligt.
„Man muß die Gabe haben, mit Kräutern umgehen zu können“, sagt Aaron Ngema. In seinem schmalen Geschäft hat man fast Angst, sich umzudrehen und damit die fragile Ordnung zum Einsturz zu bringen. Bis unter die Decke stapeln sich Hunderte von Gläsern mit Kräutern, Wurzeln, Insekten, Würmern und zerstoßenen Knochen. Dazwischen hängen Affenköpfe und Schlangenhäute, ein Gebiß eines Nilpferdes und mehrere Büffelhörner.
Aaron Ngema, der aus der entfernten Provinz Natal stammt, hat die Gabe von seinen Vorfahren geerbt. Im Traum, so sagt er, erschien ihm sein Großvater und führte ihn in die Anfänge der Heilkunst ein. So lernen die meisten traditionellen Heiler ihr Handwerk. Fast immer folgen sie irgendwann im Leben dem Ruf der Ahnen. Manche erhalten schon als Kinder den Ruf, andere erst in fortgeschrittenem Alter. Zu heilen ist im Selbstverständnis der Sangomas weit mehr als ein Beruf: es ist eine Berufung.
Aaron Ngema ist darauf stolz und macht kein Hehl daraus. Der ungewöhnlich hochgewachsene Mann hat außerdem königliches Geblüt in den Adern: Seine Familie ist einer der einflußreichsten Häuptlings-Clans in Natal. Heute ist der 54jährige ein Inyanga, eine hochstehende und geehrte Persönlichkeit in der Hierarchie der traditionellen Heiler. Ursprünglich heilten Inyangas nur mit pflanzlichen Substanzen, doch im Volksmund verwischen sich die Unterschiede zunehmend.
Ngemas Geschäft ist weit über Johannesburg hinaus bekannt. Kollegen kommen sogar aus den Nachbarländern, um bei Ngema heilende Substanzen, „Muti“, zu kaufen. Einer seiner regelmäßigen Kunden ist Bischof Salomon Jula aus einem Township im Süden von Johannesburg. Der methodistische Pfarrer behandelt seine Gemeindemitglieder nebenher mit Kräutern gegen Kopf- und Gliederschmerzen, Bluthochdruck und Diabetes. Die Kosten liegen zwischen 20 und 60 Rand (etwa 7,50 Mark und 22 Mark) pro Behandlung – guter Durchschnitt.
Einen Widerspruch zur christlichen Religion sieht der alte Mann nicht. „Das sind die Methoden, die wir in Afrika seit Jahrhunderten verwenden.“ Fast 80 Prozent aller Südafrikaner sind heute Christen, zugleich aber suchen 80 Prozent der Schwarzen mindestens einmal im Leben einen Sangoma auf. Tierische Substanzen verwendet Jula nicht, und er wirft auch keine Knochen wie viele „Hexendoktoren“.
Die Bandbreite von reinen „Herbalisten“, also denjenigen, die nur Pflanzen verwenden, bis hin zu „Hexendoktoren“, die böse Geister austreiben und Hexen aufspüren, ist wie überall in Afrika groß. Wichtig an traditioneller Heilkunst ist fast immer auch die soziale Komponente. Eine einfache Behandlung kann Stunden dauern, weil dem Patienten und seinen Nöten geduldig zugehört wird. Vor allem auf dem Land sind die Heiler höchstgeachtete Persönlichkeiten. Rund 200.000 traditionelle Heiler gibt es in Südafrika – weit mehr als niedergelassene Ärzte. Viele von ihnen sind in Berufsverbänden organisiert und absolvieren regelrechte Ausbildungen.
Afrika liegt in Johannesburg nicht nur im Mai-Mai-Markt. Tausende von traditionellen Heilern arbeiten im Herzen der supermodernen „Stadt des Goldes“, wo die großen Konzerne und Banken ihre Paläste aus Marmor, Glas und Stahl haben. Die Millionenstadt hat sich zum Entsetzen vieler Weißer in den letzten Jahren in eine pulsierende schwarzafrikanische Metropole verwandelt, in der Zehntausende von Straßenhändlern die Bürgersteige belagern und Sammeltaxen rücksichtslos und jede Verkehrsregel mißachtend um die Kundschaft kämpfen.
Die Geschäfte haben sich auf die neue Kundschaft eingestellt. An jeder Straßenecke, oft in riesigen Läden, kann man Muti kaufen – traditionelle Medizin. Und die Kunden sind keineswegs nur einfache Leute vom Land, sondern schwarze Akademiker und Banker.
Muti heilt nicht nur Schnupfen und Kopfschmerzen, Impotenz und Unfruchtbarkeit, Asthma und Aids. Es bringt auch weggelaufene Ehefrauen zurück, vertreibt böse Geister und verhilft zu Reichtum und Glück. Die Grenzen von Heilkunst zu schwarzer Magie sind fließend. Viele schwarze Südafrikaner glauben nicht nur an heilende Kräuter, sondern auch an die Macht der Geister.
Das weiße Regime tat den Glauben an Magie als afrikanischen Zauber ab. Außerdem verbot es Hexerei durch ein Gesetz, das heute noch in Kraft ist. So einfach kann es sich Südafrikas erste schwarze Regierung nicht machen. Zwar ist eines ihrer liebsten Schlagwörter das der Afrikanisierung; mit der Anerkennung traditioneller Lebensformen tun sich viele hohe ANC-Leute, die fast ihr ganzes Leben im Exil verbracht haben, dennoch schwer. Nur zögernd mochte der Afrikanische Nationalkongreß (ANC) unter Nelson Mandela einsehen, welch zentrale Rolle die Sangomas spielen.
Seit Jahren schon fordern die traditionellen Heiler, daß sie vom Staat anerkannt und herkömmlichen Ärzten gleichgestellt werden. Doch die Verhandlungen darüber kommen nur schleppend voran. „Wir hatten endlose Treffen mit Regierungsvertretern“, seufzt Solomon Mahlaba, Vorsitzender des mächtigen „Verbandes der traditionellen Heiler“. Herausgekommen ist dabei nur wenig. „Mittlerweile haben wir den Eindruck, daß die Regierung zwar durchaus die Leistung von einzelnen Sangomas anerkennt. Wenn es aber darum geht, Kriterien zu entwickeln, ist sie vollkommen überfordert.“
Im zuständigen Gesundheitsministerium gilt das Thema als heißes Eisen. Zwar ist man bereit, die „Zusammenarbeit zu formalisieren“, und ungezählte Treffen und Workshops finden statt. Heikel wird es aber, wenn es um überprüfbare Kriterien geht. Unstrittig ist, daß die Heiler formale Qualifikationen vorweisen und Mitglieder in anerkannten Verbänden sein müssen. Längst schon gibt es mehrmonatige Kurse für Heiler, und in der Nähe der Hafenstadt Durban wurde im vergangenen Jahr sogar ein Krankenhaus eröffnet, das nur nach traditionellen Methoden behandelt.
Die Anerkennung der Zunft könnte die Regierung und ihre leeren Kassen durchaus entlasten. Die medizinische Grundversorgung in Südafrika, vor allem in ländlichen Gebieten, ist immer noch sehr schlecht. Allerdings darf der ANC nicht in den Ruch kommen, Quacksalber zuzulassen. Denn auch davon gibt es viele. Manche von ihnen sind daran beteiligt, gegen Geld Hexen aufzuspüren, die dann grausam umgebracht werden. Vor allem im Norden Südafrikas kommt es dabei zu brutalen Exzessen, an denen ganze Dörfer beteiligt sind.
Unterstützung finden die Sangomas andererseits sogar in halbstaatlichen Konzernen. Der Elektrizitätsriese Eskom beispielsweise war der erste, der ein Modell zur medizinischen Betreuung durch Sangomas akzeptierte. Jeder Arbeitnehmer kann jetzt „Krankenscheine“ zu jeweils 10 Rand erwerben. Ob er damit zu einem herkömmlichen Arzt oder zu einem Sangoma geht, bleibt ihm überlassen. Nach der Behandlung rechnet die zuständige Krankenkasse so wie mit den Ärzten zu festgesetzten Sätzen ab. Andere Firmen wollen dem Beispiel folgen.
Doch welche Heiler und welche Methoden sollen anerkannt werden? Längst greifen Südafrikas Ärzte auf die jahrhundertealten Kenntnisse über Kräuter und Pflanzen der Inyangas zurück. Damit dieses Wissen nicht verlorengeht, wird an der Universität von Kapstadt sogar ein Kompendium darüber erstellt. Aber soll jemand, der seinen Patienten zur Diagnose die Knochen wirft, einem Arzt gleichgestellt werden?
„Das ist eine Behandlungsart, die in Afrika seit Jahrhunderten praktiziert wird“, sagt Almond Khozai. „Warum soll das plötzlich nicht mehr so sein?“ Khozais Behandlungsraum liegt ebenfalls in Johannesburg, in einem winzigen Schuppen im Hinterhof eines Einfamilienhauses. In ähnlichen Räumen praktizieren Tausende von Sangomas, aber die Umgebung ist diesmal überraschend: Khozai praktiziert in Vrededorp, einem heruntergekommenen Vorort, in dem überwiegend arme Weiße leben. Sangoma zu sein ist für ihn ein Nebenerwerb. Täglich bis 14 Uhr arbeitet er in einem Supermarkt, dann verwandelt er sich in einen buntgewandeten Sangoma.
Die Behandlung findet auf Strohmatten statt. In einem kleinen Stoffbeutel hütet Khozai sein wichtigstes Instrumentarium, die Knochen. Zur Behandlung sitzt er dem Ratsuchenden gegenüber und wirft als erstes diese Mischung aus wirklichen Knöchelchen, Münzen, Geldscheinen und Steinchen. Je nach Konstellation kann Almond Khozai sehen, was für ein Mensch vor ihm sitzt und welche Probleme und Krankheiten er hat – und wie die Zukunft aussehen wird. Dies ist, davon ist Khozai wie alle „Hexendoktoren“ überzeugt, absolut zuverlässig. Nur woran sich was erkennen läßt, bleibt sein Geheimnis.
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