: Triumph der Tellerwäscher
■ Die Organistin Carol Weitner konfrontierte im Dom Altes und – fast – Neues
Welch süßes Gefühl ist die Reue. Insbesondere die über verpaßte Möglichkeiten. Denn diese Reue beinhaltet ein großartiges Wissen: das Wissen, daß die Welt wunderschön sein könnte – wenn man nicht gar so träge wäre. Wir sind davon überzeugt, daß Sie diese komplizierten psychischen Zusammenhänge zwischen Glück und Leid spüren, wenn wir vom letzten umsonst-Domkonzert dieser Saison erzählen. Schließlich betrachten wir uns nicht nur als Planungshilfe für künftige Kulturfreuden, sondern als professionelle Gedächtnisbildner. Vorerst also ist Schluß mit der Möglichkeit, sich donnerstags abends zwischen sieben und acht Uhr der bunten Gemeinschaft von OrgelstudentInnen, Einkaufsüberdrüssigen und Meditationswilligen beizugesellen. Noch vor Ladenschlußzeit verwandelt Musik den Dom in eine Insel der Ruhe. Nicht wenige flüchteten sich dorthin mit einiger Regelmäßigkeit: eine Art anonymer Club der Gleichgesinnten. Und bei Bedarf stimmte der Programmzettelverteiler am Eingang mit einer großzügigen Geste ein in den entspannten Geist dieses Ortes: Wer kein Geld bei sich hatte, bekam das 1-Mark-Programm eben umsonst.
Zum Abschluß also komponierte die amerikanische Organistin Carol Weitner ein kontrastives Programm, das Bekanntes und Unbekanntes, Komplexität und erhabene Schlichtheit durchmischt. Zu hören war die Umarmung alter, deutscher Kontrapunktik (Bach und Buxtehude) durch amerikanische (Konzertanfang) und französische (Konzertende) Süffigkeit zwischen Jahrhundertwende und Gegenwart.
Die „Fanfaren“ eines gewissen Calvin Hampton (1938-1984) sind Teil der langen Tradition von Populismus und sinnlicher Üppigkeit in der amerikanischen Musik vor, jenseits und nach der minimal music. Über einfachen und doch quicklebendigen Pendelfiguren singt eine ruhige, hochemotionalisierte Melodie. Ein paar rare Dissonanzen wollen nicht reizen, sondern nur den strahlenden Dur-Charakter bestärken. Das Stück huldigt einem Optimismus, den man hören kann als eine Art Transformation der amerikanischen Tellerwäscherlegende in die Musik.
Kompositionen von Dan Locklair zeigen, daß die minimal music eben nicht eine kleine Enklave blieb, deren Möglichkeiten längst ausgereizt sind. Neben den reinen Ausprägungen eines Glass, Reich, Nyman sind noch jede Menge nähere oder fernere, spannende Ableitungen denkbar. In einem langsamen Stück spinnt Locklair seine Melodielinie ganz entspannt von bekannten Wendungen zu Neuem weiter. Vor Überraschungen oder gar Brüchen ist der Zuhörer gefeit.
Die Toccata d-Moll von Bach paßt mit ihrem monochromen Charakter erstaunlich gut in diesen Kontext: ein einziges Baumodul in unendlichen Variationen treibt die Musik nach vorne – bei Carol Weitner vielleicht nicht ganz so sehr wie erhofft. Das Thema der dazugehörigen Fuge wird geprägt durch große Intervallsprünge. Diese markiert die Organistin durch kleine Verzögerungen; schließlich benötigt auch ein Möbelpacker eine Verschnaufspause bevor er etwas in die Höhe stemmt. Allerdings breitet sich der Charakter der Zähigkeit vielleicht etwas allzu regelmäßig über diese doch sehr abwechs-lungsreiche Komposition aus. Die wuchtige Motorik des Schlußstücks von Henri Mulet, beatmet durch Schweller und Vibrato, entwickelt erstaunlicherweise unter Weitners eher unathletischem Zugriff große Kraft. In Summe ein interessantes, anregendes Konzert.
In sechs Wochen ist es übrigens vorbei mit der süßen Reue. Ab 10. September werden sich wieder jeden Donnerstag Orgelmelodien auf hunderterlei verschiedene Art verweben mit den gemalten Ziergirlanden des Doms. bk
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