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Von Büchern und BVG-Usern

Glotzen kann jeder, Pommes essen, „BZ“ lesen und seinen eigenen Gedanken nachhängen auch. Am sinnvollsten aber überbrückt man die Zeit zwischen zwei U-Bahn-Stationen mit Bestsellern und Honoré de Balzac, mit Krimis und Italo Svevo  ■ Von Michael Neubauer

Eine U-Bahn-Leseliste gibt es noch nicht. Niemand hat bis jetzt herausgefunden, was in den Tunneln der U-Bahn zwischen Gewackel und Warngefiepe von Zeit zu Zeit am liebsten gelesen wird. Also ab in den Untergrund und ein schnelles Aufspringen in die U 6 bei einem harten Ignorieren des „Zurückbleiben bitte“.

Doch hier wird Zeitung gelesen, weit und breit kein Buch. Die U 6, Redakteursverteiler für Redaktionen von Springer bis taz, ist für diese Präzedenzuntersuchung nicht geeignet. Zwischen Mehringdamm und Stadtmitte rascheln die Blätter, Männer mit Schlipsen lesen Die Welt und Berliner Morgenpost und verlassen die Bahn an der Kochstraße. Die Romane fahren anderswo.

In der U 1 zum Beispiel, Linie der Lektürevielfalt. Andrea, 21 und Rechtsanwalts-Azubi mit legerem Jeanshemd, liest „A is for alibi“ von Sue Grafton. „Jedes Buch ist ein mögliches U-Bahn- Buch, aber ich lese meistens was mit Rechtsanwälten drin.“ Jedes Abteil ist ein potentielles Krimi- Abteil, etwas weiter liest Gereon Meyer (27) „Revanche“ von Jim Thompson, „ein etwas schmutziger Ami-Krimi aus den 50ern, den ich jedem empfehle“. Meyer, Physiker an der Freien Universität, liest alle Thompsons durch, muß von Dahlem- Dorf täglich nach Turmstraße und legt den Finger während des Umsteigens in die U 9 (Spichernstraße) zwischen die Seiten. „Ein Buch ist besser als eine Zeitung: Ich kann mich damit zurückziehen.“ Er schafft etwa einen Schmöker pro Monat. „Krimis sind gut für die U-Bahn. Softwarehandbücher lassen sich auch gut lesen.“ Wir danken für die freundliche Empfehlung und wechseln das Genre.

Marianne, mit edlen Stoffen gekleidet, deren Beruf und Alter unbekannt bleiben muß, weil sie Haltestelle Uhlandstraße ganz schnell zum Shoppen aussteigen mußte, las Meisternovellen von Balzac. „Lieber handlich kleine Bücher“, darauf käme es an, deswegen eine zarte Ausgabe von Manesse, und die dann nur für die U-Bahn.

Wahrhaft ein Argument, die Handlichkeit. Die Verlage haben vor Jahren reagiert und Minibücher für die Hosentasche herausgegeben. Jutta (45) liest auf ihrer 35-Minuten-U-1-Lesereise Geschichten von Italo Svevo, „Mein Müßiggang“, und erholt sich von ihrem Tag als Revisorin der Ordnungsmäßigkeit der Datenverarbeitung. „Ich schiele auch mal auf die Nachbarbank, was die so lesen, klar, frage aber nie nach.“

Der lesende Nachbar. Etwa der Mann mit Käppie und Lederjacke mit einem ganz besonderen Exemplar. In Leder gebunden, Goldschnitt, chinesische Märchen aus dem Jahr 1914, Verlag Eugen Diederichs in Jena. „Ich sammle so was, habe gerade 60 Mark dafür im Antiquariat ausgegeben und schau mir in der U-Bahn nur die Bilder an.“ Denn Klaus braucht Ruhe drinnen und Dunkelheit draußen. Die hat er jetzt, denn die Bahn ist im Tunnel steckengeblieben. „Auch dafür ist es wichtig, immer ein Buch bei sich zu haben“, sagt Klaus, der übrigens 50 Jahre und Taxifahrer ist.

Stört das nicht, die Geräuschkulisse dieser Metallschlangen, die schwülstig-freundlichen Stationsansagen und das „schwitzende Fleisch in Kolonnen“, wie Lyriker Durs Grünbein einst schrieb? „Nein, die Zeit vergeht schneller, und ich nutze sie. Kommt freilich darauf an, wie kräftig es wackelt“, sagt U-2-Carola (20) mit Drama von Frank Wedekind, Titel „Frühlings Erwachen“, eine Empfehlung ihrer Freundin. Derzeit vierte Szene, „da geht's um Jungen und Mädchen, recht viel Blabla.“ Unvergeßlich für Carola war ihre Zeit zwischen Eberswalder Straße und Potsdamer Platz mit „Das Parfüm“ von Süskind. Unter anderem auch deswegen, weil sie bei dem Buch schon mal den Ausstieg verpaßt hat.

Croissant-Duft bei Öffnen der Tür. Bahnhof Alexanderplatz, raus Richtung Hönow. In der U 5 sitzt Mario (21), der kommt vom Arbeitsamt und krault den Stoppelbart. „Die graue Eminenz“ in seinen Händen, Teil drei, ein Fantasy-Roman, der im Berlin des 21. Jahrhunderts spielt. Ihn nervt das flackernde Licht, aber er läßt sich nicht ablenken von seinem mythischen Zukunfts-Berlin voller Action, hat nicht recht Lust, mehr davon zu erzählen. Es wundert sowieso, daß die Spezies der U-Bahn-Leser scheinbar gerne Auskunft gibt über das Gelesene.

Dann die ältere Frau kurz vor der Haltestelle Frankfurter Allee. Lächelnd ist sie in einem großen Buch versunken, das sie mit einem weißen Einband versehen hat. Ein Schutz gegen Schmutz? Vor eindringlichen Blicken? Was liest die da, was derart verzückt? Lektüre als lustvolles Überbrücken des transitorischen Zustands! Die vier Vor-sich-hin-Glotzer, die um sie herumsitzen, rätseln vermutlich ebenso.

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