Der Porsche fürs Bewußtsein

Gottkönigliche Eventkultur: Der Dalai Lama versammelt in Schneverdingen 10.000 Menschen zur individuellen Befreiung  ■ Von Norman Ohler

„Betrachte alle Dinge wie einen Stern, eine Täuschung, eine Kerzenflamme, wie eine Luftspiegelung, eine Wasserblase, einen Traum, einen Blitz oder eine Wolke.“ Diesen Vers aus den Drei Sets zu Praktizierenden Übungen singt der Dalai Lama zu Beginn seiner Unterweisung, die seit einer Woche andauert und harte Anforderungen an jene stellt, die nicht stillsitzen können. Im niedersächsischen Heidekurort Schneverdingen lehrt das geistige und weltliche Oberhaupt der Tibeter vor bis zu 10.000 Menschen einen Stufenweg zur individuellen Befreiung. Es ist die bisher größte buddhistische Veranstaltung in Europa. Das noch bis zum Sonntag stattfindende Gastspiel eines der großen Superstars unseres Planeten bietet ein spirituelles Spektakel, eine Möglichkeit für neue Erkenntnisse.

Unbuddhistische Kaffeepreise

Martin Seidensticker, 31, der als Krebsforscher in Berlin-Buch arbeitet, steht nach mehreren Stunden aus dem Schneidersitz auf und humpelt in Richtung Mittagspause, ein zufriedenes, selbstironisches Lächeln auf den Lippen: „Daß der Kaffee drei Mark kostet, find' ich ein bißchen unbuddhistisch“, sagt er. „Aber hier lerne ich ja, mich von materiellen Anhaftungen zu befreien.“ Er hat sich Sonderurlaub genommen, um den bisher längsten Besuch Seiner Heiligkeit auf deutschem Boden miterleben zu können.

Wie viele Buddhisten es mittlerweile in Deutschland gibt, ist unklar, die Schätzungen belaufen sich auf eine halbe Million. Je unbarmherziger die Chinesen den tibetischen Glauben auszulöschen versuchen, desto umfassender breitet er sich im Westen aus. Die Priesterkaste in den dunkelroten Roben wird in diesen Tagen an Einfluß gewinnen – in ihrem Kampf gegen die Vernichtung.

Der Andrang im ehemaligen Militärcamp Reinsehlen bei Schneverdingen ist gewaltig. Etwa drei Viertel der Anwesenden sind Frauen. Die 37jährige Ani Lobsang Drime, die im bürgerlichen Leben Birgit Schweiberer heißt und seit zwei Jahren als Nonne in der Nähe von Pisa lebt, erklärt das überwältigende weibliche Interesse an den Lehren Seiner Heiligkeit: „Die Tendenz zur Introspektion, die den Kern unserer Religion ausmacht, ist bei Frauen höher. Probleme werden im Inneren gelöst, im eigenen Leben – nicht so sehr durch einen Eingriff in die Außenwelt, wie das bei Männern eher zu beobachten ist.“ Sie selbst hat lange Zeit als Anästhesistin gearbeitet, und es hat sie nie befriedigt: „Ich war immer auf der Suche nach dem, was über die materielle Existenz hinausgeht. Was mich unabhängig macht von den Machtverhältnissen des weltlichen Lebens.“

So verwundert es nicht, daß die Großveranstaltung in der Mammutzeltstadt mit Basar, Kinderhort und Restaurants vor allem jene alternativ-etablierte Schicht der Dreißig- bis Fünfzigjährigen anzieht, die mittlerweile das Rückgrat unserer Gesellschaft bildet. Die Unterweisungen Seiner Heiligkeit sind links in dem Sinne, daß sie Selbstbestimmung und Selbstbefreiung fördern, die universelle Verantwortung jedes einzelnen betonen, ein Gefühl der Vernetztheit der irdischen Gemeinschaft herstellen. „Wir haben jedes Recht, das Leiden zu beenden“, spricht der Friedensnobelpreisträger, und formuliert seine Idee von der „Happy Society“ – ohne Machthaber und ohne Waffen. „Ist der Buddhismus der Dritte Weg – auch ökonomisch gesehen?“ wird er bei der anfänglichen Pressekonferenz gefragt.

Der Profit muß zurückfließen

„Es ist gut, Geschäfte zu machen“, Seine Heiligkeit grinst: „Aber der Profit sollte zurückfließen in die Gesellschaft, vor allem in soziale Projekte. Halb marxistisch, halb buddhistisch – so bezeichne ich mich manchmal. Aber grundsätzlich gilt: Nicht materiell findet man Frieden. Nur mental.“ Dann eilt er rüber ins Tempelzelt, wo Tausende, nachdem sie gemäß Sicherheitsstufe 2 auf Waffen durchsucht wurden, bereits auf dem Boden sitzen und auf Seine Informationen warten. Die Personifizierung des göttlichen Geistes auf Erden lächelt zunächst den etwa einhundert in Gelb, Orange und Dunkelrot gekleideten Nonnen und Mönchen zu, die in einem Halbmond vor ihm sitzen, dann richtet er seinen Blick auf die unzähligen Reihen der Besucher und singt aus dem Mandala zur Bitte um Lamrim-Unterweisungen: „Hier sind die Sonne und der Mond, der edelsteinbesetzte Schirm, das Banner des Sieges über alle Richtungen und in der Mitte der herrliche Reichtum von Göttern und Menschen, dem es an nichts fehlt, der rein und erfreulich ist.“

Lamrim heißt der Kurs, den der Dalai Lama unterrichtet: ein Stufenweg zur Erleuchtung, zum immerwährenden Glücklichsein durch Vermeidung von Leid. Denn Leid, so der Buddha, beruht allein auf einer falschen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Gier, Neid, Ärger oder Nichtliebe sind Irrtümer, nichts weiter. Als diese möchte der Buddhismus sie entlarven. „Leid kann durch Schulung des Geistes beendet werden“, spricht das tibetische Oberhaupt. „Wir wollen öfter lächeln, oder? Dabei gilt es immer, dem anderen zu helfen – oder ihm zumindest keinen Schaden zuzufügen.“ Es geht während dieser Woche in der Lüneburger Heide also um das größte Mysterium des menschlichen Lebens: Wie bloß kann man glücklich werden auf dieser verwirrten Erde? „Befreit sein ist unsere eigentliche Natur“, spricht der 63jährige, der weit mehr ist als eine Medienfigur, nämlich ein Mönch, Philosoph und Analytiker: „Wir sind ein stiller Teich. Auch wenn in der Welt Sturm ist.“ Mit einer Hand weist er auf das heftig im Heidewind rüttelnde Zeltdach und bekommt einen seiner zahlreichen Lachanfälle: „Es ist kalt hier. Deshalb sollten wir die innere Heizung einschalten!“

Im tibetischen Café nebenan sitzt Roman Kraner über einen Kaffee gebeugt. Er ist freier Journalist und will „irgendetwas für den deutschen Playboy über „Tantra“ schreiben. Er strahlt. „Ich weiß jetzt, was meine Geschichte ist“, sagt er und zündet sich eine Zigarette an, obwohl rauchen verboten ist. „Es geht um die Heimat. Ich hatte vergessen, woher ich komme, von welchem Planeten. Das hat mir den Urlaub auf Erden vermiest. Also mußte ich erkennen, daß die einzige mögliche Heimat in mir selbst liegt. In jedem einzelnen ruht die eigene persönliche Heimat. Ich bin die Geschichte. Nicht der Bauernsohn vom Himalaya. Nicht die 10.000 Gestalten um mich herum.“

„Jeden Moment ist Befreiung möglich“, spricht der Dalai Lama ins Mikrofon. Aber nicht durch ein rationales, sondern durch ein holistisches Verständnis. In jeder Körperzelle muß das Programm geändert werden. Der Buddhismus betrachtet Befreiung als einen energetischen, alchimistischen Vorgang. „Es ist sehr gesund, den Dalai Lama zu erleben“, sagt Martin Seidensticker, der Krebsforscher. „Wie ein Kind steckt er einen an mit Seiner guten Laune.“ Tatsächlich wirkt der tibetische Gottkönig ganz anders, als man sich einen Würdenträger hierzulande vorstellt: Er ist permanent am Grinsen, singt Liedchen, streckt die Zunge heraus, fällt in sekundenkurze Trancezustände, blinzelt wild mit den Augen und kratzt sich, während die Kamera ihn auf eine unter der Zeltmitte schwebende Großleinwand überträgt. Viele der in den ersten Reihen sitzenden braungebrannten Tibeter brechen immer wieder in dezentes Gelächter aus, während der in die Lockerheit bereits völlig befreite deutsche Übersetzer die Worte für die Allgemeinheit überträgt.

Ein Volksfest mit Weisheit und Ironie

Im Tempelzelt waltet eine Volksfeststimmung, die sich zusammensetzt aus Weisheit, gepaart mit Humor, aus Zuneigung und feinster Ironie. Drei weiß maskierte Mönche, die aus der tibetischen Exilhauptstadt Dharamsala eingeflogen wurden, präparieren derweil unter einem Baldachin am Rande der Bühne ein Mandala aus farbigem Sand, das für die heute stattfindenden tantrischen Initiationen verwendet wird.

Nachdem die Besucher den fünftägigen Grundkurs in Sachen Befreiung absolviert haben, findet an diesem Wochenende für über 8.000 Bundesbürger der Eintritt in das Tantra statt, jene Disziplin, die als die effektivste gilt. Der Dalai Lama aktiviert dabei in einem jahrtausendealten Ritual jene Kraft, die im Zentrum eines jeden Teilnehmers wohnt, aber ungenutzt bleiben muß, wenn sie nicht geformt wird. Erst wenn man Kontrolle über sie gewonnen hat, durch eine Meditationsart, die gelehrt wird, kann man sie gewinnbringend einsetzen. Es ist die Kraft der Liebe und des Mitgefühls. Bei dieser Formung, die eine tief realisierte Erkenntnis ist, findet eine körperliche und geistige Transformation statt – eine neue Ausrichtung jedes Aspekts der Persönlichkeit. Nicht mehr auf leidvollen Kampf ausgerichtet sein, sondern auf Kooperation, Vernetzung.

Tantra ist im Westen besonders beliebt, weil er im Ruf steht, das Liebesleben zu verbessern. Dies ist allerdings nicht in einem sexuellen Sinn zu verstehen. Tantra gilt schlicht als die Überholspur in Richtung Befreiung, der Porsche auf der Bewußtseinsautobahn. Besteht nun die Gefahr, daß Tausende von Deutschen einen Unfall erleiden – weil sie mit soviel Liebe nicht umgehen können?

„No risk“, antwortet Seine Heiligkeit. „Wenn man die tantrischen Übungen nicht regelmäßig praktiziert“, erläutert er und zeigt das weltberühmte Grinsen, „dann verpufft der Effekt mit der Zeit.“