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Bilder, unvorstellbar für Dante

Die Reichspogromnacht vor 60 Jahren in Berlin: Die Juden der Hauptstadt quälte die Staatsregierung, die Stadtverwaltung und der Mob. 12.000 wurden inhaftiert, viele gelyncht  ■ Von Philipp Gessler

David Zwingermann verdankt sein Überleben einem Berliner Taxifahrer und der Tatsache, daß dieser ein Weißrusse war. Der 14jährige stürmte mit seinem gleichaltrigen Freund Horst Löwenstein aus ihrer Synagoge, dem „Friedenstempel“ in der Markgraf-Albrecht-Straße. In den Armen zwölf Torarollen, die sie im Toraschrein gefunden hatten, dessen dicke Eichentür die Rollen vor den Flammen geschützt hatte.

„Auf den Treppen, dem Bürgersteig und der Straße waren Nazis", berichtet David später. Dann das Taxi – die Rettung: „Glücklicherweise war der Fahrer, ein gebürtiger Weißrusse, bereit, die Torarollen zu transportieren.“

Soviel Glück wie die beiden Berliner Jungen haben in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, vor 60 Jahren, nur wenige. In ganz Deutschland wüten SA-Horden, angestiftet durch die Parteispitze, und ganz normale Bürger: Sie verwüsten Synagogen oder legen dort Feuer, demolieren etwa 8.000 jüdische Geschäfte, zerstören Wohnungen von Juden, demütigen, verprügeln, vergewaltigen oder ermorden sie.

Etwa hundert Juden werden bei dem Pogrom, der den harmlosen Namen „Kristallnacht“ erhält, gelyncht. 30.000 werden in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt, Hunderte sterben dort. Fensterscheiben im Wert von 10 Millionen Reichsmark werden eingeschlagen. Schaden reichsweit: mehrere hundert Millionen Mark.

In Berlin wird das bekannte Juweliergeschäft Margraf, Unter den Linden, leergeräumt – anständige Volksgenossen haben allein hier Kostbarkeiten im Wert von 1,8 Millionen Mark mitgehen lassen.

„Kein Schaufenster eines jüdischen Geschäfts ist heilgeblieben“, jubelt das Naziblatt „Völkischer Beobachter“ am 11. November über das Wüten in der Hauptstadt.

Betty Scholem beobachtete das Geschehen im Osten Berlins und in der Gegend um den Alexanderplatz: Etwa 12.000 Männer ab dem 15. Lebensjahr wurden verhaftet, „selbst von der Straße weg“, heißt es in ihrem Augenzeugenbericht. Die inhaftierten Juden müssen im Konzentrationslager bei Frost „in ungeheizten Räumen auf der Erde liegen. Haufenweise kamen Todesfälle vor, es war gräßlich“.

Die Synagogen Berlins, zusammen mit den Betstuben 115 an der Zahl, sind das Hauptziel des Mobs. So wird beispielsweise das Gotteshaus in der Fasanenstraße, einem Zeitzeugen zufolge, immer wieder in Brand gesteckt, da das Feuer nicht um sich greifen will. Eine Synagoge in der Prinzregentenstraße wird vollständig ausgebrannt, die in der Frankfurter Allee demoliert, die Torarollen zerfetzt und umhergeworfen. Die Feuerwehr erhält die Anweisung, die Brände nur bei Gefahr für Nachbarhäuser zu löschen.

Immer wieder wird das Geschehen in der Neuen Synagoge an der Oranienburger Straße in Berlin Mitte, eines der prächtigsten jüdischen Gotteshäuser Deutschlands, erwähnt: SA-Männer haben im Vorraum schon Feuer gelegt, als der Vorsteher des Polizeireviers 16 am Hackeschen Markt, Wilhelm Krützfeld, mit einigen Beamten auftaucht. Er hat ein Papier in der Hand, wonach der Bau unter Denkmalschutz steht. So kann er die Nazis davonjagen und die herbeigerufene Feuerwehr überzeugen, tatsächlich zu löschen.

„Bilder, die sich Dante nicht vorstellte", schildert der kolumbianische Gesandte Jaime Jaramillo Arango in einer Note nach Hause. Er war Zeuge der Barbarei auf dem Kurfürstendamm und sieht glasklar, wer dahinter steckt: „Hier und dort an den Ecken, geschützt durch die Dunkelheit, standen einige Autos, von denen Personen mit den schwarzen Uniformen der SS (...) Anordnungen gaben und die widerliche Verwüstung leiteten“, heißt es in dem Bericht, den Hermann Simon, Direktor der Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“, ausgegraben hat. Er trug ihn vor am Samstag in der Französischen Friedrichstadt- Kirche am Gendarmenmarkt bei einer Gedenkveranstaltung des Berlin-Brandenburgischen Kulturvereins „Porta Pacis“.

In Berlin lebten Anfang 1933, vor der Machtübernahme der Nazis, über 160.000 Juden. Entrechtet und gedemütigt durch etwa 2.000 Sondergesetze, waren Berliner Juden im Fokus nicht nur der Reichsregierung, sondern auch der Stadtverwaltung, die oft der reichsweiten Verfolgung um einen sadistischen Schritt voraus war.

Die Pogromnacht war die entscheidende Schwelle von der Verdrängung und Vertreibung der Juden hin zu ihrer Deportation und Vernichtung – oder, wie es Propagandaminister Joseph Goebbels zynisch am 13. November in den Germania-Sälen an der Chausseestraße formulierte: „Die Judenfrage wird in kürzester Frist einer das deutsche Volksempfinden befriedigenden Lösung zugeführt.“

Von den Berliner Juden erlebten nur 6.000 bis 8.000 das Kriegsende im Mai 1945 in Berlin: Über 55.000 hatte der Naziterror umgebracht, der Rest konnte fliehen.

Und David Zwingermann? Ihm glückte mit einem Kindertransport die Flucht nach England – der Kultusdezernent der Jüdischen Gemeinde fand seinen Mut so toll, daß er das durchsetzte: Die rettende Tat rettete den Jungen. Sein Freund Horst aber wird Ende 1941 in Riga ermordet.

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