piwik no script img

Die geistige Vorbereitung auf das große Abenteuer

■ Bergsteigen in Bremen. Folge 7: Warum Tagträume den Bergsteiger nicht lähmen, sondern motivieren

Sie erinnern sich: Frau Giesela Kraft verkaufte mir zirka 350 Kilo Ausrüstung, und das Tierheim an der Müllverbrennungsanlage verkaufte mir einen Lassie-Berghund. Die technischen Vorbereitungen für meine Besteigung des Bremer Müllbergs waren also schon weit gediehen – aber der Birnbaum meines Verstandes hatte ebenfalls Früchte hervorgebracht, so viele, daß ich die ganze Nachbarschaft mit Birnenmarmelade hätte versorgen können. Mein geistiges Auge hatte schon einige hundert Male den entscheidenden Moment gesehen, in welchem ich auf dem Gipfel stehen, die Fäuste gen Himmel recken und mich wie ein echter Gewinner fühlen würde. Dazu würde Whitney Houston „One Moment in Time“ singen, und ich würde schmetternd einstimmen, give me one moment in time, when I'm more than I thought I could be, then, in that one moment in time, I will feel, oh yeah I will feeheeheeeeeeeeeeel e-ter-ni-tyyyyyyyyyy!!! Und ein jeder, der die Exegese der Whitney-Houston-Texte ähnlich gewissenhaft wie Bret Easton Ellis betrieben hat, weiß, daß man lebenslang zu den Gewinnern zählen wird, hat man nur diesen einen Moment in der Zeit.

Aber es gibt auch Musikwissenschaftler, Soziologen und Psychologen, die Mr. Ellis und Mrs. Houston in diesem Punkt vehement widersprechen. Spex-Redakteur Mark Terkessidis etwa hat in seinem richtungsweisenden Essay „Ethnologisch-feministische Implikationen, Relativismus und kulturelle Kontinuität im Frühwerk der Whitney Houston“ darauf hingewiesen, daß „jemand, der mal ganz oben war, da immer wieder hin will, und wenn man mal ganz alt und häßlich ist und keiner einen mehr sehen will, dann haut man sich eben eine Nadel in den Arm, und dann ist man auch ganz oben. Allerdings weiß ich nicht, was geiler kommt, eine Goldmedaille um den Hals oder Morphine in der Blutbahn. Deshalb probiere ich das jetzt mal aus und schreibe Euch dann im nächsten Heft, wie's war. Wir Wissenschaftler nennen das Selbstversuch, oder, für die Anglisten unter Euch, auto-try. Drückt mir die Daumen, Euer Mark.“

Wie auch immer, ich glaube, daß weder Siegertreppchen noch substanzinduzierte Serotoninausschüttung mit dem Erklimmen eines Berggipfels mithalten können. Ich spürte eine Ahnung davon, weil ich, wie oben bereits angedeutet, den erwünschten Glücksmoment ausgiebig halluzinierte; ich fühlte mich stark und gut und schlau und durchtrieben, mein Verstand arbeitete mit messerscharfer Präzision, jeder meiner Gedanken war ein surgical airstrike gegen die Munitionslager meiner zukünftigen Gefahrenquellen, gegen die Köpfe der Küchenschaben meiner denkbaren Problemkomplexe – oder wahlweise gegen andere hinkende Bilder (ich danke Gerhard Schröder für die leihweise Zurverfügungstellung seines Redenschreibers). Ich erkannte ein Problem – analysierte es – entwickelte Problemlösungsstrategien – erprobte die entwickelten Problemlösungsstrategien an adäquaten Problemkomplexsubstituten – analysierte und reflektierte die Ergebnisse der an den adäquaten Problemkomplexsubstituten erprobten Problemlösungsstrategien und wiederholte diesen Vorgang so lange, bis ich von der praktischen Anwendbarkeit der erdachten und von mir im Laufe des Erkenntnisprozesses modifizierten Problemlösungsstrategien so überzeugt war, daß eine Anwendung der modifizierten Problemlösungsstrategien auf den originären Problemkomplex (oder, nach Hesseler, den Primärproblemkomplex) nicht länger leichtsinnig erschien.

Das ist ein wenig abstrakt und schreit geradezu nach Beibringung von Beispielen. Ich möchte diesen Schrei erhören und etwas Futter bei die Fische geben, indem ich ein Exempel statuiere. Primärproblemkomplex: Wenn man vom Berg runterfällt, verletzt man sich. Analyse: Ergebnis vermutlich Aua, verlangt aber nach experimenteller Verifizierung. Problemkomplexsubstitut 1: Tisch. Ergebnis: ein wenig Aua. Problemkomplexsubstitut 2: Balkon. Ergebnis: Aua! Aua! Problemkomplexsubstitut 3: Krankenhausdach. Ergebnis: Aua! Aua! Aua! Erkenntnis: experimentelle Erprobung der Problemkomplexsubstitute ausreichend, deshalb Formulierung der Ergebnishypothese für den Primärproblemkomplex: Aua! Aua! Aua! Aua! Aua! Aua! Problemlösungsstrategie: nicht vom Berg runterfallen.

Auf diese Weise löste ich alle anfallenden Probleme. Nur drei wurmten mich noch. Erstens, wie kriege ich 350 Kilogramm Ausrüstung zum Müllberg? Zweitens, tut es auch ein unaufgepumpter Lassie? Und drittens, wo finde ich einen Bergführer, wenn keiner in den Gelben Seiten steht? Das Thema bei Arabella heute morgen war: „Dein Erfolg hat dich total verdorben!“ Tim Ingold

nächste Folge folgt nächste Woche

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen