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Einen Abend zu Gast bei Madame Dai

Die südvietnamesische Restaurantbesitzerin blickt auf eine erstaunliche Karriere zurück. Nach ihrer Arbeit als Anwältin eröffnete sie unter den Kommunisten ein privates Etablissement, eine Oase für Unzufriedene  ■ Aus Ho-Chi-Minh-Stadt Jutta Lietsch

„Le régime tombe“, sagt Madame Dai amüsiert, als ein Foto wie von Geisterhand geschoben aus dem Regal auf den Boden kippt, „das Regime stürzt“. Auf dem Bild ist sie zusammen mit dem immer noch mächtigen vietnamesischen Ex-Parteichef Do Moi zu sehen. „Ich erwarte Sie in meiner Bibliothek“, hatte die 74jährige am Telefon in gepflegtem Französisch versprochen. Ein beleuchtetes Schild am Hauseingang im Zentrum von Ho-Chi-Minh-Stadt, das die Bewohner immer noch Saigon nennen, weist den Weg: „La Bibliothèque“. Wer durch die Tür in den kleinen Raum mit gedeckten Tischen tritt, fühlt sich in eine andere Zeit versetzt.

Es ist ein ganz besonderes Restaurant: In den Holzregalen, die sich an allen Wänden des Raumes entlangziehen, stehen alte französischsprachige Nachschlagewerke und juristische Wälzer. Die Ledereinbände sind aufgeplatzt, zermürbt vom unerbittlich schwülen Klima Saigons. Fotos prominenter Besucher hängen an der Wand. Staub liegt auf dem Sammelsurium vietnamesischer und chinesischer Keramikschalen, die, so scheint es, seit Jahrzehnten nicht verrückt wurden. Ein paar Ventilatoren drehen sich müde.

Als die Kommunisten aus dem Norden Saigon im Jahre 1975 eroberten, begann hier die zweite Karriere der Madame Dai, die eigentlich Ngyuen Quynh Anh heißt, woran sich aber heute niemand mehr erinnert. „Ich wollte nicht fliehen“, erinnert sich die zierliche alte Dame in der schwarzen Bluse und dem gleichfarbigen Rock. „Was sollte ich also tun? Die neue Regierung schaffte die unabhängigen Gerichte ab, wir Juristen durften nicht mehr praktizieren.“

Aus der engagierten prominenten Anwältin und Vizepräsidentin des Senats wurde die Chefin eines kleinen Restaurants. Sie stellte Tische und Stühle in ihre Kanzlei und begann zu kochen. In jenen Jahren, als die neuen Herren aus dem Norden besonders eifrig versuchten, bourgeoise Tendenzen ihrer südvietnamesischen Brüder und Schwestern auszurotten, wurde die Bibliothek von Madame Dai, das damals erste und einzige private Restaurant, zur heimlichen Oase.

Diplomaten oder ausländische Journalisten, die vor den trüben staatlichen Restaurants flüchten wollten, fanden bei ihr in den achtziger Jahren Kerzenschein, ein köstliches französisch-vietnamesisches Menü und belebende Konversation. „Damals hieß es: In Vietnam muß sich jeder Diplomat zweimal akkreditieren, einmal bei der Regierung, einmal bei Madame Dai“, erzählt sie, und ihre Augen mit dem feinen zittrigen Lidstrich lächeln. Einmal kam sogar der französische Präsident François Mitterrand. „Sie sitzen zufällig gerade an seinem Tisch“, sagt sie.

Madame war nicht nur eine große Schönheit, sie war auch klug und kultiviert. Die Tochter einer der reichsten Familien Südvietnams hatte nach dem Zweiten Weltkrieg in der französischen Stadt Montpellier studiert und promoviert.

Nach ihrer Rückkehr 1952 eröffnete sie mit zwei Kollegen eine Anwaltspraxis und ging später als Abgeordnete ins Parlament. „Ich hatte Freunde in den obersten Etagen der Politik“, erzählt die alte Dame. Sie kannte Staatschef Diem und verkehrte mit seiner ehrgeizigen und skrupellosen Schwägerin, Madame Nhu, die bei den US-amerikanischen Verbündeten als „Eiserner Schmetterling“ bekannt war. Wenn die beiden schönen Damen in Gesellschaften auftraten, hielten Männer wie Frauen den Atem an. „Aber wer war sie schon?“ sagt Madame Dai und erlaubt sich damit eine kleine Eitelkeit: „Ich hatte meinen eigenen Beruf, ich war Doktor der Jurisprudenz.“

Wie viele Südvietnamesen mißtraute sie den Kommunisten aus dem Norden – und sehnte sich zugleich brennend nach Unabhängigkeit für ihre Heimat, in der die Amerikaner die französischen Kolonialherren abgelöst hatten. Sie zählte sich mit anderen Intellektuellen zur „Dritten Kraft“. „Ich bin keine Kommunistin, ich bin Patriotin“, sagt sie noch heute. Sie war empört über die Brutalität, mit der die Saigoner Regierung ihre Kritiker als „Kommunisten“ verfolgte, einsperren und foltern ließ. Die Anwältin verteidigte politische Gefangene und protestierte unerschrocken gegen Mißhandlungen in den Gefängnissen.

Ihr Einsatz bewahrte sie 1975 vor den Umerziehungslagern, in denen Hunderttausende Südvietnamesen nach ihrer „Befreiung“ durch die Vietcong verschwanden. Denn einige der politischen Häftlinge und Untergrundkämpfer, denen sie geholfen hatte, marschierten nun als mächtige Parteifunktionäre in Saigon ein. Sie sollten auch später schützend die Hand über sie halten, wenn Madame Dai gegenüber ihren ausländischen Gästen allzu offen über die Unfreiheit in Vietnam klagte. Allerdings, sagt sie, „wußte ich immer, wo meine Grenzen sind“.

Ihre Hoffnung, eine wichtige Rolle im neuen Vietnam zu spielen, wurde bald enttäuscht. Die Partei unterdrückte jede Kritik. Die Angehörigen der „Dritten Kraft“ flüchteten als Boat People ins Exil, verschwanden im Lager oder ließen sich von der Kommunistischen Partei kooptieren.

Madame Dai wurde Mitglied der von den Kommunisten dominierten Patriotischen Front und später Vorsitzende eines Schiedsgerichts für Wirtschaftskonflikte. „Bevor ich zusagte, erbat ich mir von der Partei einen gewissen Spielraum, um die Glaubwürdigkeit des Gerichts zu stärken“, berichtet sie. Doch stets war ihr bewußt, daß „ich nur ein Bauer auf dem Schachbrett der KP war“.

Nebenher führt sie ihr Restaurant, empfängt Gäste, pflegt ihre Kontakte zu den Mächtigen des Landes, die wußten, wer da ein und aus ging, sammelt Geld für ein Waisenhaus, hilft behinderten Kindern. „Ich mußte immer kämpfen“, sagt sie. „Das hielt mich jung, deshalb habe ich noch das Herz einer Achtzehnjährigen.“

Doch die große Zeit ihrer Bibliothèque ist vorbei. Das politische Klima ist nicht mehr so eisig wie einst. Und Saigon hat sich gewandelt. In der Nacht locken Bars und edle Restaurants. Die illustren Gäste bleiben aus. Zwei Gäste, junge Auslandsvietnamesen, wollen zahlen. Die beiden Mitarbeiterinnen von Madame, die mit dem strengen Knoten im Nacken nicht wie Kellnerinnen, sondern wie ältere Gouvernanten wirken, schreiben die Rechnung auf einen vergilbten Block.

Der Raum ist fast leer. Madame Dai geht hinüber zum Tisch, an dem zwei deutsche Touristen in T-Shirt und Shorts ihr Bier austrinken: „Messieurs, wenn Ihre Zeit es Ihnen gestattet, darf ich Ihnen etwas Hausmusik bieten?“

Sie geht voran, eine schmale Treppe hoch: „Bitte treten sie ein, hier ist mein Wohnzimmer.“ In drei Reihen stehen Metallklappstühle mit rotem Plastiksitz bereit. Auf einem kleinen Altar lehnt das Foto eines grauhaarigen Generals in weißer Paradeuniform: „Er hat sich immer für mich eingesetzt.“ An den Wänden Bücher, Fotos, Urkunden, Erinnerungsstücke. Ein paar Familienbilder: Ihre längst erwachsenen Kinder leben in Kanada und den USA, der Rest der Familie ist in Frankreich. „Ich fahre manchmal hin. Aber ich komme immer wieder.“

Aus einer Seitentür treten ein blinder Mandolinenspieler und ein Flötist und spielen ein russisches Volkslied. „Ich habe meinen Gästen immer ein Kulturprogramm geboten“, sagt sie. Der Mann mit der Mandoline ist Lehrer an einer Musikhochschule. Die Touristen klatschen höflich. Madame drückt den Musikern ein paar Geldscheine in die Hand.

Dann wendet sie sich wieder den Besuchern zu: „Darf ich Ihnen zum Abschluß eine kleine Stärkung anbieten?“ Im Arm hat sie eine Fünfliterflasche klaren Schnaps, in dem ein Knäuel toter Schlangen schwimmt – als Aufbaumittel und Aphrodisiakum in ganz Ostasien eine begehrte Kostbarkeit. Madame Dai schwört darauf. „Erzählen Sie mir bei Ihrem nächsten Besuch, ob es gewirkt hat“, sagt sie fröhlich, als sie sich an der Tür verabschiedet.

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