: Jenseits der Schwerkraft
Der Trend zur genüßlichen Levitation: Romane von Gert Heidenreich und Christian Mähr erklären die feine Kunst des Schwebens. Ikarus kommt dagegen auch in Jürg Amanns Version des Mythos der Sonne zu nahe ■ Von Jörg Magenau
Wunder gibt es immer wieder, wenn man nur fest genug daran glaubt. Doch im Unterschied zu früheren, religiöseren Zeiten, in denen die Kirche die Wundertätigen aller Länder unerbittlich ihrer Deutungshoheit unterstellte, sind die Wunder der säkularen Gegenwart vom Fernsehen okkupiert – das „Wunder von Lassing“ beispielsweise, bei dem ein verschütteter Bergmann nach zehn Tagen unter Tage unter weltweiter Anteilnahme gerettet wurde.
Für richtige Wunder, die die Naturgesetze ausschalten, muß man heutzutage jedoch den Raum der Fiktion betreten, jene literarische Weltgegend, in der alles möglich ist und in die sich die Menschen gerne zurückziehen, wenn das Traumpotential ihres eigenen Lebens erschöpft ist. Gegenwärtig scheint reichlich Bedarf an Träumen und Wundern. Gleich drei neue deutschsprachige Romane handeln vom Abheben, von der uralten Menschheitsutopie des Fliegens. In Jürg Amanns Neufassung des Mythos von Ikarus geht es noch einigermaßen mit rechten Dingen und technologischen Hilfsmitteln zu. Doch Gert Heidenreich in seinem sechsten und Christian Mähr in seinem ersten Roman erzählen von wunderhaltigen Levitationen und knüpfen damit an die Legende vom heiligen Joseph von Copertino an, dem Meister des ekstatischen Schwebens, der 1963 zum Patron der Weltraumfahrt ernannt wurde.
Joseph von Copertino – so kann man in der soeben bei 2001 erschienenen Neuausgabe des Immerwährenden Heiligenkalenders nachlesen – pflegte üblicherweise den Schrei „Oh!“ auszustoßen, um sich mit leuchtendem Gesicht und ausgebreiteten Armen vom Boden zu erheben. In der Kirche von Assisi soll er derart auf die Statue der Unbefleckten Empfängnis zugesegelt sein, um sie zu umarmen und für vier Credos dort oben zu verweilen. Als sein Oberer ihn zurückrief, flog er „gehorsam wieder auf den Boden nieder und entfernte sich scheu und wortlos“. Er verschied im Kreise musizierender Mitbrüder in einer letzten Verzückung. Mehr als hundert Levitationen sind von ihm bezeugt.
Ganz ähnlich funktioniert das Abheben auch bei Arun, nepalesischer Saltoist in einem kleinen Wanderzirkus und Hauptfigur in Gert Heidenreichs Artistenroman „Abschied von Newton“. Während einer Vorstellung ist Arun plötzlich in der Lage, den Salto aus dem Stand vierfach zu springen. Er hat sich verliebt und springt nun für Blandine, die schöne Seiltänzerin. Eine kleine Zeitverzögerung, ein minimales Verharren in der Luft und eine Abwärtsbewegung wie in Zeitlupe machen es möglich. Der fünffache Salto folgt, und bald erhebt sich Arun einfach so in die Luft, sitzt dort oben im Schneidersitz oder macht es sich bequem, als läge er in einer unsichtbaren Hängematte.
Arun wird von François Colombier, einem seltsamen, älteren Herrn entdeckt und unter Vertrag genommen, einem Wundersammler, der selbst ein Wunder ist: Zwischen den Schulterblättern wächst ihm ein dritter Arm aus dem Rücken. Colombier ist der Chef eines privaten Gen-Labors und eine Art Weltschöpfer. Am Stadtrand von München hat er sich in riesigen Hallen künstliche Landschaften angelegt, in denen seltsame Wesen ein glückliches Leben führen. Da gibt es Pegasus, das geflügelte Pferd der griechischen Mythologie, ein Einhorn aus der Retorte und eine fröhliche Seejungfrau, die aus Menschen- und Heringsgenen zusammengemischt ist. Colombier schreckte nicht einmal davor zurück, sich selbst klonen zu lassen, und zieht nun seinen Sohnbruder als jüngeres Ebenbild auf.
Statt gentechnischer Horrorvisionen entwirft Gert Heidenreich ein Paradies aus dem Labor, eine künstliche Natur voller Anmut, eine Genetik, deren Schrecken durch Zauberkraft und Phantasie gezähmt sind. Selbst das Klonen erscheint bloß als privater Schabernack, der allenfalls zu ein paar melancholischen Betrachtungen anstiftet. Denn die Gen-Wesen haben einen Nachteil: sie altern schnell, der zügige Verfall ist ihnen implaniert. Und so ist Arun das einzige haltbare Wunder in dieser phantastischen Welt.
Der Roman spielt nun durch, was mit so einem Wunder in der Medienwelt geschehen würde. Alle Fernsehsender und Fotografen sind bald hinter Arun her; Bilder vom Flugwunder sind teuer. Aruns Agentin verhandelt mit Vertretern der Industrie, der Politik und der katholischen Kirche, die allesamt großes Interesse an einer exklusiven, publicityträchtigen Werbefigur haben. Den Zuschlag erhält schließlich die Kirche, die fürs nächste Jahrtausend einen großen hölzernen Dom auf dem Münchner Oktoberfest plant und dafür einen Levitierenden als attraktive Innenausstattung gut gebrauchen könnte. Doch im Showdown während der Silvesternacht 1999/2000 stirbt der Papst in Rom, die Vertragsunterzeichnung platzt. Colombiers schöne Wunderwelt wird von staatlich gedungenen Rechtsradikalen angegriffen und zerstört, die tiefgefrorenen Embryonen vom Verfassungsschutz gestohlen, während Arun, auf der Flucht vor den Fotografen, fliegend zu entkommen sucht.
„Abschied von Newton“ ist eine merkwürdige Kreuzung aus traditionellem gesellschaftskritischem Roman und Fantasy: ein Produkt aus dem Schriftstellerlabor. Daß die Mischung funktioniert, liegt daran, daß die beiden Teile aufeinander reagieren. Das Phantastische ist gesellschaftlich rückgebunden und verliert deshalb, trotz aller Flugeinlagen, nie ganz die Bodenhaftung. Und die Gesellschaftskritik erfährt in der Gentechnikutopie eine überraschende, angenehme Wendung. Denn daß Politiker korrupt, Kirchenleute bigott, Medien skrupellos und Industrielle geldgierig sind, das wußten wir ja schon.
Störend an „Abschied von Newton“ ist allenfalls die romantisierende Sicht auf das schöne, bunte Zirkusleben mit besseren Menschen und einer Artistensolidarität, die sogar noch vom indischen Tiger geübt wird. Der Zirkus wird zum Abbild einer intakten Gesellschaft verklärt, deren Probleme allenfalls in eifersüchtigen Ehegatten und Liebeskomplikationen bestehen. Überhaupt die Liebe: Sie ist die Kraft, die Arun in die Lüfte erhebt. Sie ist das Zentrum, um das sich alles andere organisiert, ein religiöser Restbestand, wo es nur noch zu glauben, aber nichts mehr zu deuteln gibt. Liebe verleiht die sprichwörtlichen Flügel – das ist die höchst banale, tröstende Botschaft des Buches.
In „Simon fliegt“, dem Debütroman des österreichischen Rundfunkredakteurs Christian Mähr, bekommt der Titelheld seine Levitationsfähigkeit dagegen geschenkt. Eine mysteriöse Postkarte aus La Palma teilt ihm nüchtern mit, daß er ab sofort fliegen könne. In der Eingangsszene steigt er auf das nächtliche Dach seines Hauses, um sich in die Luft zu erheben. Dabei beobachtet ihn Otto Jakob, ein dem Alkohol verfallener, gesellschaftlich gescheiterter Mann, der ihm von da an gnadenlos nachstellt, um ihm sein Geheimnis zu entlocken. Der Einbruch des Wunders, mitten in einem verschlafenen Wohnviertel, ist knapp und präzis und – wenn man das von einem Wunder sagen kann – „realistisch“ beschrieben. Leider aber entwickelt sich daraus dann doch nur eine altbekannte Beziehungs- und Eifersuchtsgeschichte. Peter Fischer, Ich-Erzähler und wie Autor Mähr Rundfunkredakteur, wird in die Sache verwickelt und entdeckt, daß seine Frau ausgerechnet mit dem fliegenden Simon ein Verhältnis hat. Traurige Weihnachten also bei Fischers zu Hause, traurige Kinder, unglückliche Ehe, wie langweilig.
Außerdem spielt ein penetranter bajuwarischer Autor eine Rolle, der ein Hörspiel über die „Taten des Petrus“ verfaßt hat, das auf eine apokryphe Levitation hinausläuft. Die Geschichte vom fliegenden Simon soll so wohl auf eine höhere Bedeutungsebene gestemmt werden. Doch allzu deutlich ist zu spüren, wie der Autor an der Hydraulik kurbelt, als daß man ihm irgendwelche Wunder abnehmen möchte. Schön leicht gelingt Christian Mähr dagegen der Schluß. Die Flugfähigkeit überträgt sich nämlich nach dem „Gesetz von der Erhaltung des Übernatürlichen“ von einem Protagonisten auf den anderen und erreicht schließlich auch den schlecht gelaunten Erzähler. Doch statt zu fliegen schwebt der zunächst nur millimeterweise über dem Boden, hebt sich aber exponentiell von Tag zu Tag höher, so daß er fürchtet, bald verschwunden zu sein: „In zehn Tagen bin ich hundertfünfundvierzig Kilometer hoch, weit über der Atmosphäre. Atemluft? Druck? Keine Ahnung. Ich nehme an, das ist geregelt. Wo ein Wunder ist, da ist das andere nicht weit.“ Viel eleganter kann man einen Erzähler wohl nicht entfernen.
Ganz anders ergeht es Ikarus, der in der Variante des Schweizers Jürg Amann zum Ballonfahrer mutiert. Er schlägt, das weiß man ja, schließlich hart auf der Erde auf. Bei „Ikarus“ ereignen sich keine Wunder. Hier wird der Traum vom Fliegen hart erarbeitet. Amann erzählt in einer seltsamen Ort- und Zeitlosigkeit. Irgendwo auf dem Land, auf einem Bauernhof, läßt er Vater und Sohn wie besessen ihre Flugexperimente exerzieren, als ob es nichts anderes gäbe auf der Welt. Das Levitieren gelingt dem jungen Ich-Erzähler nur im Traum. In der Wirklichkeit muß er sich mit Drachen-steigen- Lassen begnügen, mit gasgefüllten Luftballons oder einem kleinen Heißluftballon aus Papier. Zusammen mit seinem Vater baut er rustikale Fluggeräte, und wie der Schneider von Ulm stürzen sich die beiden von Türmen und Mauern, brechen sich sämtliche Knochen und lassen sich doch nicht vom nächsten Versuch abhalten.
Amann baut den in kurze Kapitel gegliederten Roman unaufdringlich als Parabel der fortschrittsbesessenen Menschheitsgeschichte und zugleich als prototypischen Lebenslauf. Der Erzählbogen spannt sich vom kindlichen Träumen und Spielen, wo noch der Fliegende Robert mit Regenschirm als Vorbild dient, über mittelalterliche grobholzige Maschinen- und Flügelexperimente bis zum erwachsenen Versuch der technologischen Beherrschung der Natur im Fesselballon.
Im Unterschied zur Legende von Dädalus und Ikarus stirbt in Amanns Variante zunächst der Vater. Er kollabiert in der eisigen, luftlosen Höhe der ersten großen Ballonfahrt. Der Sohn aber muß den Vater überbieten, denn so funktioniert der Fortschritt, wenn er im Mythentonfall erzählt wird. Er schwebt in einer Ballon-Raumkapsel am Mond vorbei, um endlich der Sonne zu nahe zu kommen. Der Rest ist bekannt. Mütter und Töchter kommen in dieser Geschichte nur als schemenhafte Randfiguren vor. Sie besorgen das Haus, sprechen bei Tisch mahnende Worte und sterben früh. Das Fliegen aber bleibt eine Angelegenheit für Väter und Söhne.
So erweist sich der utopische Raum der Fiktion immer wieder als restriktiv. Er enthält nichts, was nicht auf dem Boden der Tatsachen schon bereitet wäre. Wo Freiräume betreten werden sollen, schlägt die Wirklichkeit gnadenlos zurück. Die Phantasie hängt selbst dann noch an den eingefleischten Grundmustern des Denkens, wenn es darum geht, natürliche Gesetzmäßigkeiten zu transzendieren. Ob Liebe, Ehe oder Technik: Am Ende landen alle Flüge im Machtbereich der Tradition. Damit erzählen die drei Flugbücher vielleicht mehr über die pragmatische Epoche der Bodenhaftung, der sie entstammen, als ihnen lieb ist.
Jürg Amann: „Ikarus“. Roman. Arche Verlag, Zürich, Hamburg 1998, 146 Seiten, 34 DM
Gert Heidenreich: „Abschied von Newton“. Roman. DVA, Stuttgart 1998, 316 Seiten, 39,80 DM
Christian Mähr: „Simon fliegt“. Roman. DuMont Buchverlag, Köln 1998, 266 Seiten, 39,90 DM
Albert Christian Sellner: „Immerwährender Heiligenkalender“. Zweitausendeins, Frankfurt/Main 1998, 800 Seiten, 39 DM
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