: Zureden zur Arbeit wurde abgelehnt“
■ Chronik über 100 Jahre Bahnhofsmission
Ziemlich genau erinnere ich mich an die Lage: Nachts gegen 2 Uhr, in Hannover angekommen, alles tot am Bahnhof, winterkalt, und der Zug in Richtung der bremischen Provinz geht erst um 3.14 Uhr los. In dem zugigen Betonkoloß frieren, zwischen Betrunkenen, Nachtschwärmern und allerlei dubiosen Gestalten? Das wäre das Schicksal gewesen, zweifellos, wenn – ja wenn nicht die Bahnhofsmission gewesen wäre. Diese Zuflucht für Mühselige und Beladene hat rund um die Uhr ihre Türen auf, so scheint es, und in Hannover saßen da eben auch einige schlaftrunkene Reisende, umsonst und drinnen sich aufwärmend, bis die Stimme des Lautsprecher aufschreckte: Der Eilzug nach Bremen ....
Warum machen die das? Diese Frage ist mir damals, ich gestehe, nie gekommen, die Bahnhofsmission ist eben immer da und irgendwie ewig und die Frage wäre ungestellt und unbeantwortet geblieben, wäre nicht jüngst zum 100sten Jubiläum das Buch von Jürgen Blandow herausgekommen, das diese Geschichte ebenso liebevoll wie akribisch aufschreibt.
„Evangelische Liebestätigkeit“ stand an der Wiege der Bahnhofsmission vor 100 Jahren, ursprünglich wollte ein „Verein der Freundinnen junger Mädchen“ den jungen, alleinreisenden Frauen gegen die Gefahren der Großstadt helfen. Constantin Frick beschrieb als erster in Bremen die „Eigenart und Notwendigkeit der Arbeit“ dieses Vereins, 1913. In der Bahnhofsmission wurde Auswanderern geholfen, heimkehrenden Soldaten, Ost-Flüchtlingen, Ex-Strafgefangenen und Gestrauchelten aller Art – keine historische Zeitepoche, die ohne diese letzte Anlaufstätte auskam. 1933 entfernte die Bahnhofsmission eilfertig das „jüdische Zeichen“ von ihrem Plakat, ohne daß dadurch die „Betreuung jüdischer Hilfsbedürftiger“ leiden soll. Die „Kundschaft“ der Bahnhofsmission ist immer eine Art Spiegel der Gesellschaft und der Löcher im sozialen Netz.
Es muß reizvoll sein, eine Reihe von Tagen und Nächten an diesem Brennpunkt zu verbringen und diese Gesellschaft wie ihre Helfer zu beschreiben. Der Autor des Jubiläumsbandes zum 100jährigen Bestehen Bahnhofsmission unter dem irreführend aufgepeppten Titel „Gleis 1 – Südseite“, Jürgen Blandow, hat dieser Versuchung widerstanden und die Chronik der Bahnhofsmission als trockener Vereinsgeschichte aufgeschrieben. Die Trostlosigkeit des Textes birgt eine Fülle unfreiwilliger Komik. Über den Hilfe-Fall Nummer 318 etwa vom 21.1.1967 berichtet das Dienstbuch: „Ein Strafentlassener suchte Dame von gestern; war erst Jude, dann Halbjude, sprach Hamburger Aussprache. Suchte Frau zum Anlehnen, weils allein nicht geht. Zureden zur Arbeit wurde abgelehnt, eine Frau (zum Unterkriechen) müsse es sein.“ Also doch Erziehung zur Arbeitsamkeit statt „evangelischer Liebestätigkeit“?
Klaus Wolschner
Jürgen Blandow, Gleis 1 – Südseite, Die Geschichte der Bahnhofsmission in Bremen, Temmen-Verlag 1998
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