Wer nicht hören will, muß sehen

Weil dem WDR seine TV-Zuschauer zu alt sind, soll ab heute das Jugendradio Eins-Live seinem Dritten neue Gucker zuführen – mit dem Fernsehableger Eins-Live-TV  ■ Von Kerstin Meier

Ältere Herrschaften, die sich auch im neuen Jahr einen beschaulichen Fernsehabend mit dem WDR-Programm machen wollen, werden irritiert sein. Gewagte Schnitte, schnelle Musik, nervöse Moderatoren und unruhige Kameraschwenks stellen ab heute täglich um 17.30 Uhr eine halbe Stunde die Sehgewohnheiten der WDR- Durchschnittsgucker auf den Kopf. Einzig die schrillen Sixties- Möbel aus der Studiokulisse dürften dem Publikum über 50 wohlvertraut sein. Eins-Live-TV heißt das Magazin, das für den WDR strategische Bedeutung hat.

Wenn Senioren dabei erschrocken wegzappen, kümmert das im Kölner Funkhaus niemanden: Im Zuge der Reform seines Dritten Fernsehprogramms soll das „Radio zum Angucken“ die junge Zielgruppe anpeilen. „Der Sender ist zu alt geworden“, sagt Nikolaus Brender, Programmchef des WDR-Fernsehens, „wir haben eine Entwicklung verpaßt.“ Nun soll das angestaubte dritte Fernsehprogramm mit Hilfe des Images des jungen WDR-Radiosenders Eins-Live aufpoliert werden.

Schon seit einiger Zeit laboriert der Sender an seinem Dritten herum. Das neue Jugendmagazin ist nur einer von mehreren Schritten, die dem WDR-Programm nun endlich mehr Zuschauer zuführen soll. Bis Ende 1999 will Brender 7 Prozent Marktanteil erobern – vor der Programmreform Anfang 1997 lag die Quote bei 4,5 Prozent. „Wir wollen kein Geheimdienstsender sein“ sagt Brender.

Das dritte Programm werden die meisten Jugendlichen erst einmal in die Fernbedienung einprogrammieren müssen – bis dato schauten nur 2,9 Prozent der Altersgruppe zur Sendezeit von Eins-Live-TV WDR-Fernsehen.

Seit April 1995 liefert der Radiosender Eins-Live täglich den Beweis dafür, daß die alte Dame WDR ein durchaus zeitgemäßes Jugendprogramm produzieren und damit Erfolge beim jungen Publikum haben kann. Damals wurde das „WDR“ des ehemaligen „WDR 1“ auf dem Altar der Jugend geopfert. Statt dessen hängte man ein schmissiges „live“ an den Namen des neuen Senders – auf daß niemand merke, daß das neue hippe Jugendradio Eins-Live aus dem selben Haus kommt wie etwa die Schlagerwelle WDR4. Die Redaktion wurde in den Kölner Mediapark ausgelagert, wo auch Viva produziert. Tagsüber sendet man von dort Musik für die Massen, Abseitigeres läuft im Abendprogramm. Nordrhein-Westfalens Jugendliche, die mangels Alternative schon längst auf Konserve oder einen Fernseh-Musikkanal umgeschaltet hatten, besannen sich der Existenz des Mediums Radio: Heute hört jeder zweite 14- bis 29jährige im „Sektor“ wie die Radiomacher das Eins-Live-Sendegebiet tauften, täglich Eins-Live.

Eins-Live-Wellenchef Gerald Baars bestand darauf, daß die Radiomacher selbst bestimmen sollten, was unter ihrem Erfolgstitel im Fernsehen läuft: „Die Gefahr, daß die Eins-Live-Hörer sich nicht mit dem identifizieren können, was unter dem Namen ihres Radiosenders im Fernsehen läuft, ist zu groß“, sagt er: „Wo Eins-Live draufsteht, soll auch Eins-Live drin sein.“ Anstatt beliebige Fernsehgesichter unter dem Namen „Eins- Live“ auf Sendung zu schicken, dürfen nun die Radiomoderatoren ihr Gesicht in die Kamera halten.

Die Unerfahrenheit mit dem neuen Medium merkt man den ersten Sendeversuchen an: Betont locker wird während des Interviews gefrühstückt, die Kamerapräsenz mancher Moderatoren ist kaum größer als die der Croissants. Eins-Live-TV macht den Eindruck, als wären alle Zutaten aus der Radio-Wunderkiste wahllos mit TV-Elementen zusammengewürfelt worden: Alte Schwarzweißaufnahmen wurden aus dem WDR-Archiv gekramt und mit mittelwitzigen Kommentaren unterlegt; unter der Rubrik „Der Scheiß ist Preis“ kann man Dinge gewinnen, die die Welt nicht braucht; ein Bericht dokumentiert obskure Trendsportarten – das verwirrt nicht nur den Zuschauer über 50. Andererseits hat die Hobbykellerästhetik der Sendung im Vergleich zum glatten Erscheinungsbild anderer Jugend- bzw. Musikformate ihren Reiz.

20 Prozent Marktanteil in der Altersgruppe zwischen 14 und 29 will Wellenchef Gerald Baars mit dem Flickenteppich-Format erreichen. Dabei vertraut er auf bimediale Verfolgungsstrategie. Wenn die Jugendlichen schon vom Radio zum Fernsehen desertieren, dann wenigstens zum WDR: „Ab 17.30 wechseln viele Jugendliche zum Fernsehprogramm über. Wir wollen also nur die kriegen, die uns sowieso verlassen.“

„Jung, schräg und frech“ findet Baars das neue Jugend-Aushängeschild des WDR-Fernsehens. Draußen in der bunten Privatfernsehwelt gibt es allerdings schon jede Menge Formate, die Gleiches von sich behaupten. Zudem ist die gesamte Programmstruktur der Privaten auf eine viel jüngere Zielgruppe ausgerichtet. Für rührige Versuche wie Eins-Live-TV bleibt wenig Platz zwischen Daily Soaps und Daily Soaps.