: Selten trifft man Klischees in solcher Reinheit
Ich habe doppelter Staatsbürger, signor Stoiber
Keine Angst, Herr Stoiber, nicht in dem Sinne, wie Sie es verstehen. Als Wächter über die Reinheit des deutschen Passes haben Sie in bezug auf meine Person nicht geschlafen, auch wenn man dies, die über zwei Millionen Menschen berücksichtigend, die zum Ärger Ihrer schlaflosen Nächte auch „papierpaßlich“ über zwei Nationalitäten verfügen, generell nicht sagen kann.
Noch einmal ausdrücklich zu Ihrer Beruhigung, ich habe nur einen italienischen Paß, und trotzdem bin ich Inhaber der doppelten Staatsbürgerschaft im geistigen und entwicklungsgeschichtlichen Sinne. Wie kann ich Ihnen das nur erklären? Am besten, indem ich innerhalb von Deutschland bleibe, dann unterliegt das Verstehen dieses Sachverhalts keiner emotionalen Sperre. Also, stellen Sie sich einmal vor, ein waschechter Münchner, kein Zugereister (auch nicht in der zweiten Generation), verliebt sich in eine Hamburgerin. Wie das passieren kann, lassen wir einmal offen, es ist halt passiert. Und dann heiraten Herr Huber und Frau Hansen, sagen ja zueinander. Die beiden sind glücklich und haben als Folge dieses Glücks Kinder. Und obwohl die Kinder Huber heißen (Doppelnamen waren zum Zeitpunkt der Heirat noch nicht üblich), werden Sie nicht „nur“ Bayern sein. Zu Hause hören sie den Dialekt ihrer Mutter und den ihres Vaters. In Hamburg haben sie vielleicht einen Onkel, der sie mal auf eine richtige ordentliche Schiffstour mitnimmt, die sie nie vergessen werden. Und dann mögen sie Labskaus und Weißwürste. Sehen Sie, und so ähnlich geht es mir. Meine Mutter kommt aus Westfalen, mein Vater ist gebürtiger Piemontese. Herr Regis und Frau Wehmeyer haben sich vor über 40 Jahren ineinander verliebt, und auch dieses Glück hatte Folgen, meine vier Schwestern und mich. Als Kind „schwärmte“ ich für Mettenden mit Grünkohl, Bratkartoffeln mit Spiegelei, Bagna Caoda und Risotto. Mein Freund Klaus hat mir und seinem Bruder Rainer in der Gartenlaube sämtlich „Sigurd“-Hefte vorgelesen, und mit Luigi habe ich zum Ärger meiner Nonna Hühner über den Hof gejagt.
Eins habe ich in dieser Eigenschaft als doppelter Staatsbürger gelernt: Die Menschen gleichen sich mehr, als sie denken, und die Vorurteile, die für die ach so gravierenden Unterschiede herhalten müssen, tun es auch. Nur eines ist relativ ungewöhnlich, selten trifft man Klischees in einer solchen Reinheit und noch dazu den Dampf unzähliger Bierfahnen atmend, wie es in Ihrem Vergleich der Fall ist. Die Gefahr der doppelten Staatsbürgerschaft soll demnach die Gefährdung der Republik durch die RAF übertreffen. Glauben Sie wirklich allen Ernstes, daß Brigaden nach Deutschland ziehen, um hier die deutsche Staatsangehörigkeit nach Ablauf von acht Jahren zu beantragen? Herr Stoiber, dem ist nicht so. Ein wenig Respekt vor den Opfern der RAF und auch vor den hier lebenden Bürgern mit doppelter Staatsbürgerschaft wäre anständig gewesen. Aber darum geht es natürlich nicht. Sie haben Ihren oder unseren Machiavelli gelesen und schielen nach Wählerstimmen und Macht. Aber auch hier frage ich Sie, glauben Sie, daß Sie hiermit eine übers Provinzielle hinausgehende Macht erlangen? Schon in wenigen Jahrzehnten werden ihre Äußerungen und die Ihres Schärpenhalters, Herrn Schäuble, angesichts eines europäischen Passes zum Abfall der Geschichte zählen. [...] Georg Regis, Mainz
[...] Wieso kann dieses Land nicht die Avantgarde in fortschrittlichen Fragen anführen? [...] Es ist unwichtig und egal, wieviel Pässe ein Mensch hat. Es ist eher eine Unverschämtheit, wenn der biedermeierähnliche Deutsche zweimal im Jahr Ferien im Ausland macht; zu Hause an der Ecke seinen Döner, Gyros oder seine Pizza zu sich nimmt oder die nächste französisch-italienisch-türkische-griechische Filmproduktion lobt und in der Frage der Doppelstaatlichkeit an der eigenen Deutschtümeligkeit scheitert. Ich hoffe, daß diese Aussage jetzt einige gewaltig ärgert – genau das will ich auch. Anregen zum Nachdenken. Es ist eine Welt mit verschiedenen Kulturen. Deutschland hat dieses Land nicht gepachtet. Es ist ein Teil der Weltlandschaft, und somit haben alle Menschen das Recht, überall auf der Welt in allen Ländern, wo sie wollen, zu leben und dort einen Paß zu beantragen und zu bekommen. [...] Tarkan Bozkurt, Schüler, Vaihingen
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