: Eher zu laut
■ Das NDR-Sinfonieorchester befreite Dvoráks selten gespieltes Oratorium „Stabat mater“ in der Glocke aus dem Schattendasein
Das große Oratorium „Stabat mater“ von Antonin Dvorák fristet im Konzertbetrieb ein Schattendasein – zu Unrecht, wie auch die jetzige Wiedergabe durch das NDR-Sinfonie-Orchester im großen Saal der Glocke unter der Leitung von John Nelson zeigte. Das eigenartige Werk zeigt 1877 die für den böhmischen Komponisten Dvorák gültige Untrennbarkeit vollkommen verschiedener Quellen: des christlichen, in diesem Falle katholischen Glaubens, dem ausdrücklichen Engagement für das Volk in der Wahl von Tänzen und Volksliedmelodik und der Einbindung in die klassisch-romantischen Kompositionskritieren.
Nelson betonte in der vordergründig gelungenen, gelegentlich zu lauten Wiedergabe noch einen anderen Aspekt: Vieles klingt wie Gustav Mahler, steht an der Schwelle zum 20. Jahrhundert.
Nelson und der großartig disponierte NDR-Chor kosteten die musikdramatischen Feinheiten des uralten Textes, der an sich nur einen einzigen Affekt zeigt, überzeugend aus: Ob es sich um den geradezu bohrenden Dissonanzakkord auf „Poenas“, die chromatisch abwärtsführende Klagefigur auf „Stabat mater“ oder auch die vielen einfachen volksliedartigen Strukturen handelt, aus denen heraus Dvorák immmer wieder seine Musik entwickelt.
Deren schmerzhafter Gestus liegt viel tiefer als auf der Ebene der reinen Vertonung des klagenden Muttergottes-Textes: Drei Kinder Dvoráks starben im Alter von zwei Tagen, eins und drei Jahren hintereinander. Und es gilt als sicher, daß diese Tragödie Einfluß auf die Komposition hatte.
Die SolistInnen paßten sich an den dramatisch durchschlagenden Stil Nelsons an: Gabriela Benackowa, Petra Lang. Christian und Peter Mikulas. Er ist eine Seite des Werkes, man könnte sich gut eine andere vorstellen, eine, die mit mehr Vorsicht und Einfühlsamkeit die Stilschichten nicht unter einer aufgeschlagenen hochforcierten Wolke zermantscht, sondern freilegt. Vielleicht wird aber dann das ohnehin sehr hermetische Werk noch hermetischer. Viel Beifall in der gut besuchten Glocke. usl
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