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Die Missionarin

Über Großstädte und Kleingeister: ein Gespräch mit der Kultursenatorin Christina Weiss, deren Buch „Stadt ist Bühne“ heute in die Läden kommt  ■ Von Joachim Dicks

Früher hat sie über Kultur geschrieben, heute muß sie drüber reden. Über zehn Jahre arbeitete Christina Weiss als Literatur- und Kunstkritikerin, bevor sie 1991 den Posten als Hamburger Kultursenatorin übernahm und damit „die Seite wechselte“, wie sie selbst es ironisch nennt. So ganz kann sie das Schreiben aber nicht lassen, wie ihr heute erscheinendes Buch Stadt ist Bühne (Rezension siehe unten) beweist.

taz hamburg: Sie haben Ihr Buch Stadt ist Bühne genannt. Wenn wir einmal Kulturpolitik als Schauspiel auf dieser Bühne bezeichnen, ist es dann eher eine Komödie oder eine Tragödie?

Christina Weiss: Beides nicht. Der Titel spielt darauf an, daß der Passant in der Stadt eine sehr stark wahrnehmende Rolle hat. Um sich zu behaupten bei einem Gang durch eine Großstadt, muß man einerseits sehr schnell und auch sehr bewußt wahrnehmen und andererseits den eigenen Auftritt registrieren, sonst wird man angerempelt, bekommt Aggressionen gegen die Geschwindigkeit und den Lärm in der Stadt. Stadt ist Bühne bedeutet: Wir sind Zuschauer und verantwortliche Darsteller zugleich.

Sie sprechen von „Kultur als Überlebensmittel“ und behaupten, sie sei „das Nötigste“. Von bedrohter Existenz ist da sogar die Rede. Rhetorische Übertreibung oder Menetekel?

Ich sehe es ganz eindeutig als Menetekel, als Vorwarnung. Denn ich glaube, daß wir im Begriff sind, einen Fehler zu begehen, einen ganz schrecklichen Fehler für die Zukunft unserer Gesellschaft. Wir achten nicht genügend darauf, was in den Köpfen der Menschen geschieht. Wir achten nicht genug darauf, wieviel Bildung wir vermitteln, wieviel Bewußtseinsbildung wir anbieten. Das halte ich für außerordentlich gefährlich. Eine lebenstaugliche Gesellschaft muß aus einer Ansammlung von mündigen Bürgern bestehen, und mündig kann man nur werden, wenn man umzugehen weiß mit dem Verstand, mit der Emotion und mit der Kommunikation.

Gehen Sie dabei nicht von einem etwas zu weit gefaßten Kulturbegriff aus?

Ich habe einen Ansatz zur Definition von Kultur gewählt – inspiriert von Vaclav Havel – der heißt: Kultur ist das Regelwerk des Miteinanders. Insofern spielt Kultur in allen gesellschaftlichen Bereichen eine entscheidende Rolle. Es gibt nicht nur positive Formen von Kultur, auch die negativen Auswüchse sind inbegriffen. Deshalb ist Kultur aber auch das Allernötigste. Weil unser ganzes Verhalten durch die kulturelle Tradition und unser kulturelles Selbstbild geprägt ist, ist Kultur im weitesten Sinne die Basis einer Gesellschaft. Das unterscheidet sich aber natürlich von den Leistungen und den Wirkungen der Künste. Das trenne ich sehr stark. Kultur ist der große, gesellschaftliche Begriff. Und Kunst ist die Begegnung mit Kunstwerken und deren Produktion.

Vermittlung bezeichnen Sie als eine der wichtigsten Aufgaben der Kulturpolitik. Das klingt pädagogisch und manchmal auch pathetisch, etwa wenn Sie von der „Befreiung durch Kunst“ sprechen.

Ich würde nicht sagen, es ist pädagogisch, es ist viel eher missionarisch. Deshalb bekommt es manchmal auch das Pathos des Engagements. Ich habe das Buch sehr persönlich geschrieben und wollte das auch so. Trotzdem ist es auch ein Sachbuch. Trotzdem weiß ich, daß die Fragen nach der Bedeutung von Kunstwerken bei sehr vielen Menschen ernst gemeint sind. Weil sie spüren, daß sie durch die Begegnung mit einem Kunstwerk etwas erleben können, aber sehr oft wissen sie nicht, wie sie sich diesem Erleben öffnen sollen. Und ich habe es selbst oft genug erfahren, wie dankbar jemand ist, dem man eine kleine Gebrauchsanweisung geben kann. Das Buch soll eine geben.

Mit besonderer Verve polemisieren Sie gegen den „kleinbürgerlichen Besitzindividualismus“, insbesondere gegen „das panische Insistieren auf Frischluftkontakte in der Nacht“. Denken Sie dabei an Hamburg, Stichwort: Kammerspiele?

Nein. Dieses Kapitel über die Stadt und das Leben in der Gemeinschaft in der Stadt basiert zunächst einmal darauf, daß ich ein richtig besessener Stadtmensch bin. Eine Großstadt funktioniert aber nur, wenn diejenigen, die in ihr leben, gerne in der Gemeinschaft leben, aber in der Gemeinschaft einer Großstadt leben heißt natürlich auch, Elemente anzunehmen und zu akzeptieren, die Teil einer Großstadt sind. Also: Lärm, Lichter, die Masse an fremden Menschen, die einen umgibt. Ich bemerke, daß es in Deutschland eine starke Tendenz gibt, die dem Stadtleben entgegensteht. Wenn ich nachts absolute Ruhe brauche bei offenem Fenster, dann ist es schon schwer genug auf dem Lande die richtige Ruhe zu finden, aber in der Großstadt und schon gar mittendrin ist es unmöglich. Wer solche Erwartungen hat und trotzdem in der Stadtmitte leben will, der muß sich jeden Tag ärgern. Und das erlebe ich auch als Kultursenatorin sehr oft: Fast alle Institutionen erleiden immer wieder heftigste Angriffe der Nachbarschaften, die einfach ein lebendiges Theater, das auch mal ein bißchen laut wird, nicht mehr ertragen können. Das ist wirklich eine deutsche Spezialität. In Deutschland gibt es die Tendenz, sich abzukapseln. Da wird allenfalls noch eine kleine Familie als Gemeinschaft akzeptiert, und die anderen sind alle die Fremden und im Zweifelsfall dann auch die störenden Fremden. Kulturpolitik hat auch die Aufgabe, das gemeinschaftliche Leben in der Stadt so zu fördern, daß die Menschen auch gerne in der Gemeinschaft leben.

Sie machen auch Vorschläge für die bessere Zusammenarbeit zwischen Kultur und Wirtschaft. Für Museen und Theater sicherlich eine Perspektive. Was aber ist mit Projekten jenseits der Hochkultur?

Im Bereich der Vermittlung hat die Nicht-Hochkultur leichteres Spiel, weil sie einfach mit anderen Zielgruppen sehr viel enger zusammenarbeitet. Also ein experimentelles Theaterstück einer freien Gruppe – in solchen Räumen finden sehr viel schneller und leichter Gespräche auch über das Stück statt. In der Zusammenarbeit mit der Wirtschaft hat es die experimentelle, zeitgenössische Kunst schwerer als zum Beispiel die erprobte, große Klassik. Die Wirtschaft hat – vielleicht manchmal zu Recht, aber meist eher aus Unkenntnis – Angst, sich auf Experimente einzulassen. Vielleicht ist das in Ordnung. Solange wir die staatliche Förderung von Kunst haben, denke ich, daß es auch in erster Linie ihre Aufgabe ist, die junge Kunst, die schwierige Kunst zu fördern.

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