: Zwei plus zwei macht zehn Prozent
■ Arbeitslosenrate steigt trotz Wachstum /Armutskrise verschärft
Wirtschaftssenator Erhard Rit-tershaus sieht's mit einem weinenden und einem lachenden Auge, die Analytiker der Landesbank freuen sich, und das Arbeitsamt zerdrückt eine Träne im Knopfloch: Nur knapp drei Jahre nach dem Einheitsboom des Jahres 1992 wachsen Produktion und Umsätze in Hamburg zwar wieder solide mit Jahresraten von mehr als zwei Prozent – die Zahl der Arbeitsplätze geht jedoch deutlich zurück.
Die schlichte Rechnung: Zwei Prozent Wachstum und zwei Prozent Arbeitsplatzverluste pro Jahr ergeben ein jährliches Arbeitslosenplus von zehn Prozent. Mit einer Arbeitslosenquote von fast elf Prozent erreicht Hamburg jetzt wieder ein Niveau, das deutsche ZeitungsleserInnen noch in den 70er Jahren allenfalls aus Irland kannten.
Trocken kommentiert Olaf Koglin, Chef des Hamburger Arbeitsamtes: „Wir können gegenwärtig keine Veränderung am Arbeitsmarkt feststellen.“ Opfer dieser Entwicklung sind vor allem Ausländer (Arbeitslosenquote fast 20 Prozent), über 55jährige und „soziale Problemfälle“. Der Bezirk Mitte hat mit einer Arbeitslosenquote von 19 Prozent bei den Männern mittlerweile die höchste Rate Norddeutschlands. „Würden die Hamburger Werte nicht gemittelt“, bedauert Koglin, „wäre Hamburg Mitte eine Krisenregion, die Anspruch auf Sondermittel besitzt.“
Tatsächlich hat sich Hamburgs Arbeitsmarktposition deutlich verschlechtert – gerade auch gegenüber Bund und Umland. Lag zu Beginn der 90er Jahre die Arbeitslosigkeit in Speckgürtel und City noch fast gleichauf, so trifft die jetzige Entwicklung „vor allem die Hamburger Wohnbevölkerung“, betont Koglin. Einfache Erklärung: Neben Arbeitsplatzvernichtung durch Rationalisierungen in Industrie und Transportgewerbe (Hafen!) sorgte vor allem der Import von Pendlern, Billig- und Schwarzarbeitern für die aktuelle Negativentwicklung.
Kurz: Hamburgs bittere Arbeitsmarktbilanz ist das Ergebnis einer unternehmerisch erfolgreichen Politik der Kostensenkung. Die blühende Bilanz wird mit der Ausgrenzung immer größerer Teile der Bevölkerung aus dem Wirtschaftskreislauf bezahlt. Könnte das Arbeitsamt mit fast 13 000 ABM-Beschäftigten und Menschen in Fortbildung und Umschulung die Statistik nicht hübschen – Hamburg wäre schon beinahe bei 100.000 Arbeitslosen angelangt wie 1987.
Was Wirtschaftsanalytiker damals prophezeiten, hat sich nun bestätigt: Wirtschaftswachstum und Arbeitsmarkt haben sich bei niedrigen Wachstumsraten „entkoppelt“. Dem Arbeitsamtschef Olaf Koglin schwant Schlimmes: „Ich gehe mit keinem guten Gefühl in den Winter. Im Süderelberaum sieht es nicht gut aus. Ich weiß nicht, ob es uns gelingt zu verhindern, daß aus Kurzarbeit bei Blohm + Voss Arbeitslosigkeit wird. Auch die Lage bei Airbus ist unübersichtlich.“ Das könnte in seinen Augen deutliche Auswirkungen auf andere Bereiche haben. Florian Marten
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen