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Wem die Stunde schlägt

Totenglöckchen oder Triumphgeläut: Die Welturaufführung des „Glöckners von Notre Dame“ in Renzo Pianos Musicaltheater am Potsdamer Platz  ■   Von Miriam Hoffmeyer

Es waren einmal zwei mächtige Banken, die hatten zum Mündel eine schöne Prinzessin namens Stella. Wohin die Prinzessin auch kam in deutschen Städten, jubelten die Menschen ihr zu, und das Gold floß reichlich in die Schatullen der Vormünder. Doch eines bösen Tages wurde die schöne Prinzessin blaß und traurig, und die Herzen der Menschen wandten sich ab von ihr. Damals aber sollte gerade ein neues Jahrtausend beginnen. Da gaben die Banker ihr die schönsten und teuersten Kleider, die die Welt je gesehen hatte, und schickten sie in die größte, ganz neu gebaute Stadt des Reiches, um dort Heilung zu finden oder aber zu sterben.

Totenglöckchen oder Triumphgeläut – der Erfolg des „Glöckners von Notre Dame“ entscheidet, ob die Hamburger Stella AG, die im letzten Jahr Verluste in Höhe von 95 Millionen Mark erlitt, langfristig an die Börse oder in Konkurs geht. Die nervöse Spannung der Mieter am Marlene-Dietrich-Platz scheint sich auf den Architekten übertragen zu haben. Wer Renzo Pianos Musicaltheater betritt, muß an einem Geländer vorbei, hinter dem ein Abgrund gähnt. Tief unten stehen verstreut Kisten herum. Zwei Premierengäste schreiten die riesige Fläche auf der aussichtslosen Suche nach einem herabgefallenem Ohrring ab. Weiter geht es ins niedrige, angstblasse, lachsrosa Foyer, das von der Vorderfront aus Glas abgewandt liegt. Nur der blaue Teppichboden strahlt Optimismus aus. Seitlich führen Treppen 35 Meter hinauf ins helle Licht und zur hummerroten Pracht des Zuschauerraums.

Der Star des Abends ist das Bühnenbild

Victor Hugos Roman um den buckligen Glöckner Quasimodo und die edle Zigeunerin Esmeralda wurde schon oft verfilmt, zuletzt als 90minütiger Disney-Zeichentrickfilm. Dessen Bühnenversion präsentiert Stella nun in Koproduktion mit Walt Disney Theatrical Productions als Welturaufführung – mit vielen etwas lustlos wirkenden Tanzszenen und neun neuen Songs. Zigeunerfolklore und Festrummel strecken die Handlung auf über zwei Stunden.

Alles beginnt mit lateinischem Mönchsgesang und dem in Kirchentonart mächtig aufsteigenden Hauptmotiv, einem der beiden großen Ohrwürmer des Musicals.

Und gleich von Anfang an ist auch klar, daß das Bühnenbild der Amerikanerin Heidi Ettinger der eigentliche Star des Abends ist. Ein meterhoher Würfel trägt den Erzähler, den Zigeunerkönig Clopin, hoch über den Bühnenboden empor, damit er den Beginn seiner großen Ballade in Moll schmettern kann, den zweiten Ohrwurm, der sich im plätschernden Zwölfachteltakt mit Dutzenden von Strophen durch das ganze Stück windet. Jede Strophe endet mit den Worten „Notre Dame“ oder deren Genitiv, eine echte Herausforderung für den deutschen Übersetzer Michael Kunze, der entsprechend viele Reime finden und erfinden muß: bekam, Scham, Wams, Bims und Bams und so weiter. Sekundenschnell tragen weitere Würfel das Personal der Vorgeschichte hoch – Quasimodos Eltern, den bösen Richter Frollo und den Domdekan, der den Mord an dem mißgebildeten Säugling verhindert und dafür sorgt, daß er fern von der Welt im Glockenturm von Notre Dame aufgezogen wird.

Und schon gerät wieder die ganze Bühne in Bewegung. Die elf beweglichen Kuben dienen nicht nur als Spiel-, sondern auch als Projektionsfläche. Dias ersetzen die Kulissen. Auch Requisiten gibt es kaum, Licht und Farbe sind alles. Damit wäre die Illusion vollkommen, gäbe es nur keine Darsteller.

Die echten dreidimensionalen Menschen wirken vor den Projektionen gelegentlich wie die aufgeklebten Objekte einer Collage. Der Realismus der Masken und Kostüme wird durch die abstrakte Leichtigkeit der sich ständig wandelnden Bilder betont und zugleich ironisiert. Die durchsichtigen gotischen Bögen von Notre Dame sind anmutiger als Esmeraldas Tanz und wechselhafter als ihr Schicksal. Herz-Schmerz-Stimmung will unter diesen Umständen nur schwer aufkommen. Die Lichttechnik ruiniert sogar eine im Trickfilm hochdramatische Szene, in der der brave Hauptmann Phoebus, von einem Pfeil getroffen, in die Seine stürzt und von Esmeralda gerettet wird. Im Musical sieht man nur poetisch grünes Wellengeflimmer, in dem die Darsteller unmotiviert herumkullern.

Besser als „Miss Saigon“ und „Cats“?

Dann ist Pause. musicalerfahrene Besucher unterhalten sich fachkundig, wie die Produktion innerhalb des Stella-Kosmos einzuordnen sei. Besser als „Miss Saigon“? Schon, aber schlechter als „Cats“ ... Die Quasimodo-Maske, toll! Tatsächlich sieht Drew Sarich fast so grauslich aus wie der Disney-Glöckner mit seiner schief verbeulten Augenpartie, dem Bukkel und dem rotblonden Schopf. Seinen gebückten Gang hat sich der Sänger bei den Affen im Zoo abgeguckt, seine Artikulation ist stockend und undeutlich. Singen tut er wie eine Nachtigall, nur hat ihn der Komponist Alan Menken (der einige Oskars sein eigen nennt, für die Musik zum „Glöckner“ allerdings keinen erhielt) recht stiefmütterlich bedacht. Quasimodos Lieder gehen zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus, ebenso wie die Esmeraldas. Die Berlinerin Judy Weiss – bekannt durch ein Duett mit Andrea Bocelli – pflegt ein saccharinsüßes Pop-Timbre, das auf Dauer nur schwer erträglich ist. Das mag auch an den Texten liegen. „Sind wir nicht alle Kinder von Gott?“ fragt sie schmachtend im Gebet, oder sie beteuert: „Ich will gut sein, nicht gescheit!“

Womit wir beim Kern des Musicals wären. Hier geht es um Großes – um Freiheit und Brüderlichkeit, um Zivilcourage und Toleranz gegenüber Minderheiten. Werte, für die sich Victor Hugo als Abgeordneter im französischen Parlament einsetzte. Werte aber auch, die heute zumindest in der Theorie Allgemeingut sind. Politische Korrektheit auch im Musical kann gewiß nicht schaden, doch die Botschaft an das neue Berlin ist recht platt. Und so strahlend gute Menschen wie Esmeralda und Phoebus sind nun einmal nicht die interessantesten Charaktere. Phoebus (Fredrik Lycke) ist wie im Disney-Film ein ausgemachter Witzbold, hat damit auf der Bühne aber wenig Glück. Sogar im Kerker muß er Sprüche klopfen, kurz bevor seine Geliebte als Hexe verbrannt wird. Damit verschenkt der Autor und Regisseur James Lapine ohne Not einen weiteren dramatischen Moment: Niemand lacht, und niemand weint. Immerhin wird mit Phoebus' erstem Auftritt die totgeglaubte Gattung des Landserliedes wiederbelebt, mit Trommeln und Trompeten: „Wenn man als Soldat endlich Urlaub hat ...“

Viel witziger als Phoebus sind Quasimodos Freunde, die aus dem Trickfilm bekannten Steinfiguren am Glockenturm der Kathedrale. Perfekt steinfarben gewandet und geschminkt, sind die drei immer bereit, aus ihren Postamenten heraus an die Seite des Buckligen zu hoppeln. Sie überreden ihn, sich zum ersten Mal hinaus unter Menschen zu wagen, und feuern ihn zu seiner Werbung um Esmeralda an. Das ulkige Terzett „Ein Mann wie du“ könnte auch aus einem Musical der 50er Jahre stammen. Alan Menken läßt sich von vielerlei Stilrichtungen anregen, von traditioneller Zigeunermusik mit Geige, Klarinette und Tamburin ebenso wie von Paul Linkes „Berliner Luft“

Die eindrucksvollste Partie hat natürlich der ruchlose Richter, der dem Zigeunermädchen rettungslos verfallen ist. Norbert Lamlas Erscheinung könnte dämonischer sein, nicht aber sein Gesang. Frollos Zerrissenheit zwischen sexueller Obsession und religiösem Fanatismus bricht sich Bahn in dem wirklich guten Lied „Beata Maria“, das das archaisierende Hauptmotiv wieder aufnimmt.

Langes Ringen um den schönen Schluß

Als Traumbild schwingt Esmeralda akrobatisch am Glockenseil – eine Vorwegnahme von Quasimodos finalem Rettungsstunt, mit dem er sie vom Scheiterhaufen reißt.

Um den Schluß hat das Stella-Team lange gerungen. Bei Victor Hugo müssen Quasimodo und Esmeralda sterben, im Zeichentrickfilm bleiben beide hochgeehrt am Leben. Das Musical wählt den goldenen Mittelweg. Quasimodo hebt die tote Esmeralda empor, die Bühnen-Würfel fahren hoch und lassen eine Art Altarbild entstehen mit Clipon als Mittelpunkt, dem Glöckner über ihm und symmetrisch drumherum gruppiertem Ensemble. Die Freiheit triumphiert, und der Leinwandhimmel färbt sich so strahlend blau wie der Teppichboden im Foyer.

Als Prinzessin Stella aber sah, wie die Menschen ihr freundlich zunickten und in die Hände klatschten, da färbte ein Rosenschimmer ihre bleichen Wangen, und sie fühlte Hoffnung auf Genesung in ihrem Herzen. Doch bis die teuren Kleider bezahlt sind, muß sie fünf lange Jahre ausharren in der großen Stadt. Das Ende der Geschichte soll daher ein andermal erzählt werden.

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