Schleifen der Kristalle

■ Ein Gespräch mit dem 1958 gebo-renen Schweizer Tänzerchoreographen Urs Dietrich, der heute mit dem 4. Kurt Hübner-Preis ausgezeichnet wird

Seit 1995 ist Urs Dietrich am Bremer Tanztheater, das er zunächst zusammen mit Susanne Linke bis 1996 leitete. Mit jeder seiner Bremer Produktionen wuchs das Renomme des „Spätberufenen“ (dieser pathetische Ausdruck sei in diesem Fall und an dieser Stelle erlaubt). 1995 „Echo oder Die Freundlichkeit des Hundes“, 1996 „Die Langsamkeit des Augenblicks“, 1997 „Do Re Mi Fa So Latitod“, 1998 „Moment mal!“ und 1999 „P(elleas) und M(elisande)“: Von jedem dieser Stücke konnte man unvergeßliche Augenblicke mit nach Hause nehmen.

taz: Herr Dietrich, Sie haben ja erst im Alter von 23 Jahren ihre Tanzausbildung angefangen, etwas getan, was eigentlich gar nicht mehr geht. Können Sie das noch einmal erzählen?

Urs Dietrich: Ich habe als Kind immer gezeichnet und wurde dann Designer. Ich habe Stoffe für die Haute Couture entworfen. Mich faszinierte die Schönheit, aber die Schnellebigkeit befriedigte mich nicht anhaltend. Ich suchte nach so etwas wie Lebenssinn. Durch Yoga entdeckte ich dann ein Körperbewußtsein, aber Yoga selbst war mir zu passiv. Dann ging ich in ein Ballettstudio für Amateure. Die Lehrerin sagte in der ersten Stunde: Wenn Du es ernst meinst, mußt Du Dich beeilen.

Was hatten Sie denn vom Tanz schon kennengelernt?

Nichts. Nur Schwanensee im Fernsehen. Ja, dann habe ich mich beeilt und bestand nach vier Monaten Training die Aufnahmeprüfung an der Folkwangschule in Essen. Es war eben Leidenschaft – Leiden und Schaffen.

Was kann der Körper anders/mehr ausdrücken als die anderen Künste?

Der Körper ist direkt, er zeigt das Bewußte und das Unbewußte. Und er ist ein Spiegel der Seele.

Beim Tanztheater fällt auf, daß das Alter der TänzerInnen keine Rolle spielt, eher sogar das Gegenteil. Menschliche Reife spielt ja in der musikalischen Interpretation zum Beispiel eine große Rolle. Wie ist denn das beim Tanz, der im klassischen Ballett ja vollkommen der Jugend vorbehalten ist?

Erfahrung spiegelt sich natürlich beim älteren Tänzer, sofern er ehrlich ist. Er muß wissen, wo er steht und darf keinem falschen Ideal nachhängen. Mir geht es heute körperlich viel besser als vor zehn Jahren, weil ich durch die Erfahrung auch viel mehr ausdrücken kann.

Wenn der Tänzer neben seiner Technik ausdrucksstark werden will, was muß er neben dem Training noch tun?

Er muß offen sein, an allem interessiert. Ich werde von allem inspiriert....

Von was besonders?

Von der Natur, wozu der Mench gehört, von Musik, von Bildern, ganz stark aber auch vom Film.

In Ihren Stücken spielt die Einsamkeit des Menschen eine große Rolle, auch ist Beziehungslosigkeit häufig Ihr Thema. Wie sind die Prozesse, daß daraus dann Stücke werden?

Das ist immer ein anderer Verlauf. Aber meist ähnelt er einem Puzzle. Ich habe 100.000 Ideen, aber nur wenige verdichten sich dann mit den konkreten Umständen: Räume, Besetzung, Geld... Das ist wie ein Kristall, der wird geschliffen und geschliffen. Wichtig ist mir, nicht eindimensional zu sein, ich will berühren, nicht servieren.

Sie haben von Anfang an – schon in Ihrem ersten Semester – auch choreographiert. Tänzer/Choreograph, wie ist das Verhältnis?

Ich kann auf keins verzichten, eins bedingt das andere, und eins befruchtet das andere.

In ihrem letzten Stück „P(elleas) und M(elisande)“ spielt die Musik eine den Tänzern gleichwertige Rolle bis hin zu dem starken Schlußbild, in dem die Tänzerin dem Saxophonspieler in die Arme springt und sein Spiel beendet. Wie kam es dazu?

Der Tontechniker Gerd Anders, mit dem ich „An der Grenze des Tages“ gemacht habe, erzählte von seiner Musikgruppe „Lauter Blech“. Mich faszinierte das nicht ganz perfekte, das Morbide. Blech glänzt, ist aber auch verbeult.

Was tragen die TänzerInnen zur Choreographie bei? Entsteht so manches auch aus Improvisation?

Ja, sicher. Ich gebe Bewegungen vor und die werden dann nach Individualiät verändert. Allerdings nicht in „P(elleas)“. Da ging es genau darum, keine Individualität zu haben. Das macht diese Trauer und diese Melancholie aus.

Bei Maurice Maeterlinck, dem Verfasser des Pelleas, spielt ja oft der Inhalt keine besondere Rolle, sondern die Stimmung, die Atmosphäre. Hat das Einfluß auf den Stil Ihres Pelleas gehabt? Auch bei Ihnen gibt es nicht die konkrete Geschichte.

So kann man das nicht sagen. Aber auch ich denke assoziativ, surreal, dadaistisch. Ich möchte innere Bilder sichtbar machen, ins Komische drehen, was traurig ist....

Haben Sie Vorbilder?

Nein, aber ich muß natürlich sagen, daß Susanne Linke den größten Einfluß auf mich hatte....Vorbilder sind mir eher Filme, so etwas wie „Die Kommissarin“, überhaupt Filme aus dem Osten.

Was sehen Sie in der Zukunft?

Natürlich tanzen und choreographieren. Aber ich könnte mir auch vorstellen, ein zweites Mal einen abrupten Schluß zu machen. Dann würde mich das Filmemachen am meisten interessieren ...ja, das könnte ich mir gut vorstellen. Ute Schalz-Laurenze

Heute um 20 Uhr im Schauspielhaus: Preisverleihung in Anwesenheit von Kurt Hübner. Der Eintritt ist frei.