: Rußlands Präsident freut sich auf den Ruhestand
■ In seltener Offenheit plaudert Boris Jelzin mit der „Iswestija“ über Amtszeit und seine Zukunft. Dabei spart er nicht mit Selbstkritik. Über seinen Nachfolger schweigt er sich aus
Moskau (taz) – Scheidet Präsident Boris Jelzin verfassungsgemäß aus dem Amt? Mutmaßungen, ob der machtbesessene Kreml-Chef noch eine Hintertür findet, um seine Dienstzeit zu verlängern, gehören zu den beliebtesten Beschäftigungen der russische Öffentlichkeit. Dem Präsidenten bleibt noch ein Jahr, um im Kreml als legitimer Herrscher einzuhüten. Den Ablauf eines Dreiviertels seiner Regentschaft würdigte der russische Patriarch in einem Interview mit der Iswestija. Spekulationen, Familie und Mitarbeiter der Präsidialverwaltung werden alles tun, um den Abschied hinauszuzögern, tritt Jelzin entgegen. Er vermittelt sogar den Eindruck, als freue er sich auf den Ruhestand. Um die endgültigen Memoiren zu schreiben, sei es in diesem Jahr noch zu früh, „im nächsten ergibt sich diese Möglichkeit“.
Bis zum Sommer 2000 sei es seine wichtigste Aufgabe, alle Voraussetzungen zu schaffen und zu garantieren, daß Duma- und Präsidentschaftswahlen „auf würdige Weise“ stattfinden können. „Danach muß in Rußland eine neue Macht antreten. Jung, energisch und mit neuen Ideen.“ Einer solchen Führung, so Jelzin, „übergebe ich meine Vollmachten leichten Herzens“. Frische Kräfte seien nötig, wenn Rußland die Herausforderungen des neuen Jahrhunderts meistern wolle. Vorsichtig nähert sich Jelzin auch dem Thema Inzucht der Moskauer Machtelite: „Die Kaderreserve – wer in den acht Jahren die große Politik bestimmt hat – ist inzwischen gut bekannt.“ Meinte er verbraucht?
Erstmals in der russischen Geschichte fände ein Machtwechsel im Einklang mit der Verfassung statt. Damit spielte Jelzin auf sein historisches Verdienst an. Die Gegenwart verweigert ihm die Anerkennung. Auch dazu äußert er sich freimütig: „Ich weiß, daß ich nicht gerade populär bin. Das ist nicht angenehm.“ Es sei aber der Preis für die Reformen.
„Andererseits werde ich nichts extra dafür tun, um meine Popularität zu steigern“, meinte der Präsident, bevor er den Schlüsselsatz formulierte, „weil ich an keinen Wahlen teilnehmen werde.“ So deutlich hatte es Jelzin noch nicht gesagt, andererseits revidiert er gelegentlich seine Positionen.
Wen hat Jelzin zum Nachfolger erkoren? Überlegungen habe er schon angestellt. Einer konkreten Antwort weicht der Kreml-Chef aus: „Sobald ich seinen Namen nenne, läßt man ihn nicht mehr in Ruhe leben.“ Daß Boris Jelzin die Schuld an der wirtschaftlichen Misere auf die eigene Kappe nimmt, deutet daraufhin, wie ernsthaft er sich im Moment mit Rückzugsgedanken trägt: Die Krise sei hausgemacht und „Ergebnis der eigenen mangelnden Hartnäckigkeit sowie Unentschlossenheit. Wir waren gleichzeitig schlechte Liberale und schlechte Sozialdemokraten.“ Einschneidende Maßnahmen vertrügen sich nicht mit dem Wunsch, allen gefallen zu wollen.
Das Verfassungsgericht entschied gestern, daß der russische Premier, wenn er den Präsidenten aus Krankheitsgründen vertritt, nicht das Recht habe, die Duma aufzulösen, Referenden abzuhalten oder die Verfassung zu ändern. Wegen Jelzins häufiger Unpäßlichkeit hatten die Kommunisten das Gericht um Klärung gebeten.
Klaus-Helge Donath
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen