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Odyssee mit Nullmorphem Frau

■ Lesen wie ein Flötist, der gleichzeitig ein- und ausatmet: Die Lyrikerin Barbara Köhler gastierte im Literaturzentrum

„Ich übe das Alleinsein, und ich denke, ich habe es darin schon ziemlich weit gebracht. Ich rede mit der Sprache, manchmal antwortet sie. Manchmal antwortet auch jemand anders. Ich rechne nicht mehr damit, verstanden zu werden. Mathematik ist nicht mein Fach.“

Relativ allein war Barbara Köhler am Montag bei ihrer Lesung im Literaturzentrum schon. Während Horden von Günter-Grass-Zuhörern das weite Feld des Audimax bevölkerten, kam nur eine Handvoll Liebhaber in die hohen Räume für noch höhere Literatur am Schwanenwik. Einsam scheint die Chemnitzer Dichterin dennoch nicht zu sein: Ihr Auftreten ist weltoffen und fröhlich, ihre Werke handeln häufig von Zweisamkeit und Kommunikation. Wie das Gedicht „Meinerlei“: „. . . mein Nichtmein mein / . . . Ichduer / mein Siees mein Gegen mein Über . . .“. Und auch bei der Lesung aus ihrem neuen Gedichtband bot Barbara Köhler Kommunikation unter Literaten an: „Also, Sie können mir sagen, wenn ich etwas noch mal lesen soll. Ich weiß, meine Gedichte, die sind nicht einfach.“

Mit ihrer ersten Gedichtsammlung Deutsches Roulette machte die heute 36jährige vor vier Jahren erstmalig von sich reden. Es folgten ein Haufen Literaturpreise, Stipendien und nun der Band Blue Box, der mit dem eingangs zitierten Text eröffnet. Bei den neuen Gedichten und Prosapoemen bleibt Köhler ihren Themen – wie der Suche nach Wahrheit oder den Beziehungen zwischen Innen- und Außenwelten – treu. Dazu wird in Blue Box das Phänomen Sprache stärker thematisiert und durchleuchtet.

Die Beschäftigung mit der Sprache wirkt sich auch auf die Gedichtstruktur aus. So sind die Texte sehr durchkomponiert, häufig Bandwurmsätze, mit denen ganze Seiten vollgeschrieben sind. Diese Gebilde liest die Dichterin monoton, atemlos und extrem artikuliert wie ein Flötist, der bei einem besonders langen Ton gleichzeitig ein- und ausatmet. Sie will niemandem die Interpretationsarbeit abnehmen, sondern die Klanglichkeit ihrer Texte hervorheben.

Am Ende des Abends im Literaturhaus gab Köhler noch Kostproben aus ihrem neuesten Projekt, einer Odyssee, die „irgendwann mal 24 Gesänge haben soll“. Die Grundidee dazu ist eine Durchdeklination des mythischen Stoffes aus weiblicher Sicht. „Bei der letzten Buchmesse habe ich mich gewundert, wie viele Titel es zu dem Thema gibt“, sagt die Dichterin. Aber das Motto zu ihrer Odyssee – ein Zitat aus dem Fremdwörterbuch – verspricht doch Originalität: „Nullmorphem: grammatisches Morphem, das sprachlich nicht ausgedrückt ist (z. B. der Genitiv, Dativ und Akkusativ Singular beim Substantiv Frau, bei dem die Fälle nur durch den Artikel u. im Satzzusammenhang deutlich werden).“

Nele-Marie Brüdgam

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