: Nichts verstanden
betr.: „Mehr Augenmaß, bitte“, Kommentar von Eberhard Seidel, taz vom 6. 7. 99
Günter Grass hat wiederholt ausgesprochen, was Hunderttausenden auf der Seele brennt, nämlich die verfehlte Asyl- und Flüchtlingspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Wer Menschen in Abschiebehaft steckt und mit Wortspielereien den Tatbestand des Freiheitsentzugs zu verharmlosen versucht, wer Menschen unter den unmöglichsten Umständen – koste es, was es wolle – abschiebt, darf sich nicht wundern, daß dieses Land im Ausland einen Ruf genießt, der zu wünschen übrig läßt und das Bild vom „bösen Deutschen“ eine Renaissance erlebt. Wer BürgerInnen ohne deutschen Paß, die über 30 und mehr Jahre in der Bundesrepublik leben und arbeiten, nach wie vor als Gäste oder Ausländer bezeichnet sowie diesen Personenkreis elementare Bürgerrechte verwehrt und fortlaufend ihr Leben in diesem Land erschwert, darf sich nicht wundern über Desintegration und Selbstisolation. So gesehen sind Denker wie Günter Grass, die diese traurigen Wahrheiten aussprechen und Gesellschaft wie Politik mahnen, eine Bereicherung für Deutschland, das einst Weltruf als „das Land der Denker und Dichter“ genoß. Das Land wird von Rot-Grün regiert, und trotzdem hat sich in der Asyl- und Flüchtlingspolitik kaum etwas geändert. War das der Wechsel, auf den alle gewartet haben?
Allerdings haben die Adressaten dieser höchst bedeutsamen Mahnworte, scheinbar nichts verstanden. Anders sind die hämischen Reaktionen und Kritiken nicht zu deuten. [...] Ich für meine Person bedauere, daß im Land der „Denker und Dichter“ es an Menschen wie Günter Grass mangelt und daß mutige Menschen wie er, an den Fingern einer Hand abgezählt werden können.[...] Özcan Mutlu, Berlin
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