: Ereignislose Geschwindigkeit
Beim Tanz im August zeigten Jérôme Bel, Merce Cunningham und Saburo Teshigawara freundliche Penetranz, reibungslose Präzision, wuchtige Präsenz ■ Von Christiane Kühl
Wenn man darüber nachdenkt, kann man sich eigentlich nur wundern, dass der September jedes Jahr pünktlich nach dem August kommt. Der September, so viel weiß man, hat doch gar keine Uhr. Nicht so eine sekundengenau piepende wie der Tänzer Antonio Carallo jedenfalls, dessen Auftritt in Jérôme Bels Choreografie „The Last Performance“ am vergangenen Dienstag die letzte Woche des Festivals Tanz im August einläutete. Er schlurfte in Holzfällerjacke, Boots und mit einer fetten Hornbrille auf die Bühne des Theaters am Halleschen Ufer, behauptete der Choreograf selbst zu sein und blickte dann stumm ins Publikum. Bis seine Armbanduhr piepte und er wieder verschwand.
Es sollte nicht die letzte Lüge sein in dieser 80-minütigen Choreografie über Identitäten, Tanz als Zitat und Dauer als Zumutung. Jérôme Bel teilt mit, Andrew Agassi zu sein, und schlägt minutenlang Tennisbälle gegen die Wand, jemand sagt: „Ich bin Hamlet“ und schiebt ein „To be or not to be“ hinterher, eine andere: „Ich bin Susanne Linke“ und kopiert einen Ausschnitt aus deren Choreografie „Wandlung“ von 1978. Dann wiederholen sich die Behauptungen und Handlungen, diesmal allerdings mit vertauschten Rollen. Der Zuschauer lacht und verweilt, wieder und wieder. „Ereignislosigkeit aushalten“ könnte das Motto des schönen Abends lauten, der im Lauf der Wiederholungen mit freundlicher Penetranz eine Frage stellt: Warum sitzen Sie eigentlich hier, wenn Sie sich doch mit Sportfernsehen bestimmt besser amüsieren würden?
Merce Cunningham verhandelt keine Alternativen. Der 80-jährige amerikanische Choreograf bezieht seit 50 Jahren konsequent alles, was ihn interessiert, in seine Arbeiten ein. Die August-September-Folge, also der lineare Zeitverlauf, spielt dabei keine Rolle. Schon in den Fünfzigerjahren experimentierte er mit Zufallsgeneratoren im Tanz; ein Prinzip, das auch in der 1996 entwickelten und jetzt im Schiller Theater präsentierten Choreografie „Rondo“ eine bestimmende Rolle spielt. Wichtiger für den Tanz im August war jedoch die europäische Erstaufführung seines jüngsten Werks, „Biped“, zu Musik von Gavin Bryars. „Biped“ ist ein Ergebnis von Cunninghams zu Beginn dieses Jahrzehnts einsetzender Auseinandersetzung mit dem Computer als Tanz strukturierendes und animierendes Medium. Das von ihm entwickelte Programm „Life Forms“ kann sowohl reale Bewegungsabläufe in grafische Figurinen umsetzen als auch Bewegungsabläufe entwickeln, die von den Tänzern dann wiederum live umgesetzt werden. Der Mensch und die Begierde spielen da keine Protagonistenrolle mehr.
Die Performance wird dominiert von einem Vorhang, auf den Computeranimationen von Tänzern projiziert werden. Sie sind weder live generiert noch durch andere Qualitäten außergewöhnlich, und doch fokussieren sie, sobald sie erscheinen, alle Blicke. Cunnighams Dance Company, deren ungeheure Präzision und Ausdauer ihr fast etwas Roboterhaftes verleihen, tritt im wahrsten Sinne in den Hintergrund. Dort, in der Distanz, agieren die Tänzer in Glitterkostümen wie Boten der Schönen Neuen Welt. Emotion und Individualität, Bilder gebrochener Körper sind nicht zu finden in dem reibungslosen Ablauf der Gliedmaßenkoordination.
Ganz anders der zweite große Meister, der zum Abschluss des Festivals im Hebbel Theater mit einer europäischen Erstaufführung präsentiert wurde: Saburo Teshigawara. Der japanische Tänzer und Choreograf, der auch Licht, Kostüme und die Bühne seiner Auftritte gestaltet, schafft einen Energieraum der Präsenz, der auf der Bühne zu leuchten scheint. Zeit und Raum fließen in ein derart dichtes Kontinuum, dass man meint, Teshigawara müsse sich mit seinen Bewegungen in die Luft hineinschneiden – und geradezu fürchtet, ein fallendes Stück der bearbeiteten Atmosphäre könne mit seiner Wucht den Zuschauerraum erdrücken.
„Absolute Zero“, das im vergangenen Jahr in Tokio uraufgeführt wurde, besteht aus zwei Soli und einem mit Kei Miyata getanzten Duo, die jeweils von einem kurzen Video eingeleitet werden. Die eigenständigen Bilder stehen mit dem Tanz insofern in Zusammenhang, als sie etwas Vages, schwer Benennbares, aber im Augenblick seiner Präsentation schmerzhaft Greifbares transportieren. Das fremde Bewegungsvokabular von Teshigawara zeigt den gekrümmten Körper mit eckigen Gliedern, dessen Bewegung sich doch aus einem einzigen Fluss nährt, und er zeigt ihn als aufrechten, sich stets behauptenden. Mal auf zitternde Knie reduziert, mal auf poetische Hände, dann in Starre und plötzlich in noch nie gesehener Geschwindigkeit, die die Bewegung als Skulptur wie mit einer Taschenlampe in die Dunkelheit geschrieben im Raum stehen lässt. September, Oktober, November und die Uhr an sich können dem 48-Jährigen egal sein, weil er sich längst auf dem Weg ins Zeitlose befindet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen