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Moskau ist grauer geworden

Nach den Anschlägen sind kaukasische Händler aus den Straßen verschwunden. Mieter bilden Schutzgruppen und abends sind die Bahnen ins Umland voll  ■   Aus Moskau Barbara Kerneck

In den letzten beiden Wochen ist Moskau grauer geworden. Gewisse Verkaufsstände für Obst und Gemüse aus dem Süden werden auf den Straßen vermisst, ebenso das Gros der Prostituierten. Das Geschäft in den Kasinos und Nachtklubs läuft flau. Wer sich heute auf dem Platz vor dem Belorussischen Bahnhof im Zentrum eine Zeitung kaufe möchte, guckt in die Röhre. Hier boten sonst Händler aus dem Kaukasus, mit Bauchläden aber ohne Lizenz, die frischesten Presseerzeugnisse feil. Jetzt sind sie verschwunden. Statt dessen steht vor jeder zweiten Säule des historischen Gebäudes – neben den Bahngleisen beherbergt es gleich noch eine Metro-Station – ein Pärchen Milizionäre.

Nachdem am 8. und 13. September je ein Wohnhaus von Terroristen in die Luft gesprengt wurde und dabei insgesamt über 200 Menschen ums Leben kamen, haben die MitarbeiterInnen der Sicherheitsorgane keinen freien Tag mehr gehabt. Die BürgerInnen geben plötzlich zu, dass so etwas wie eine Polizei im Prinzip notwendig sei, aber sie bezweifeln deren Effektivität und verlassen sich lieber auf sich selbst.

„Nur keine Panik!“ ist als Motto in aller Munde. Doch das Unterbewusstsein folgt seinen eigenen Regeln. Kaum jemand in Moskau, der dieser Tage nicht von Schlafstörungen oder Kreislaufbeschwerden berichtet. „Ich habe mir während der Arbeit die ganze Zeit Sorgen um meine Mutter und meinen Hund gemacht. Ständig lief ich aus dem Laden, um zu Hause anzurufen“, berichtet Jelena Malzewa, eine Mittdreißigerin, die in einer Reinigung arbeitet. „Nun bin ich wieder ruhiger“, fährt sie fort: „Heute abend, nach Dienstschluss, werde ich mit meiner Nachbarin zwei Stunden im Treppenhaus Wache schieben. Nachts sind dann die Männer dran. So werden wir die sechs Eingänge unseres Hauses rund um die Uhr sichern.“ In vielen der riesigen Moskauer Betonburgen haben die MieterInnen solche Selbstschutzbrigaden organisiert.

Nicht alle sind von der Zweckmäßigkeit des Laienwachschutzes überzeugt. „Das ist bestenfalls ein Vorwand für alte Schachteln, um ihre Nachbarn auszuspionieren“, sagt Dima, ein Mathematikdozent: „Und schlimmstenfalls“, so fährt er fort, „belebt das wieder diese Spitzelmentalität, die uns noch von der Stalinzeit her in den Knochen sitzt.“

Anzeichen für eine neue Welle des Totalitarismus sehen auch die in Moskau lebenden Angehörigen kaukasischer Völker. Zum Beispiel AserbaidschanerInnen, ArmenierInnen oder TschetschenInnen. Dank ihrer dunklen Haare und ihres mediterranen Teints wurden sie auch bisher schon bevorzugt von rassistischen Milizionären „zwecks Überprüfung ihrer Dokumente“ aufgelesen und auf den Wachen zusammengeschlagen. In den letzten Tagen fanden sich viele von ihnen in Sicherheitsverwahrungen wieder oder wurden Opfer unsanktionierter Haussuchungen.

Bisher hat die Miliz in Moskau drei Personen im Zusammenhang mit den Anschlägen verhaftet und praktisch alle Keller und Dachböden der Neunmillionenstadt durchsucht. Bereitwillig demonstriert man der Presse Fotos, die die Entdeckung von siebzehn Tonnen der bei den Anschlägen verwendeten Sprengstoffsorte in einem Lagerhaus in Südostmoskau dokumentieren sollen.

Weder die Miliz noch die eigene Wachsamkeit retteten allerdings den BewohnerInnen des Hauses an der Kaschirskoje Chausee, das am 13. September explodierte. So viel ist bis jetzt bekannt: Am 12. hatten MieterInnen die Miliz alarmiert und angegeben, in ihrem Keller gingen unheimliche Dinge vor. Eine Sondereinsatzgruppe rückte an. Aber vor der Tür des Gewölbes, in dem die todbringenden Säcke lagerten, machte sie wieder kehrt. Ein Mitglied der Hausverwaltung, die sich gesetzeswidrig an der Untervermietung dieser Räume bereicherte, hatte sie beschwatzt. Oder ihnen ein paar Scheine in die Hand gedrückt? Wer auch immer die Terroristen sein mögen: Tschetschenen, Dagestaner oder Slawen – die allumfassende russische Korruption ist für sie ein unverzichtbares Bandenmitglied.

„Deshalb sind wir jetzt wehrlos“, schreibt Julia Kalinina, die Kolumnistin der Tageszeitung Moskowski Komsomoljez: „Weil jeder, der viel Geld hat, mit uns machen kann, was er will. Wo sonst auf der Welt kann man in einer Fabrik, die dem Verteidigungsministerium untersteht, Tonnen eines Sprengstoffs kaufen, von dem jedes Gramm dort angeblich strikter Kontrolle unterliegt? Nur bei uns. Kaufen und dann durch das halbe Land karren. Und niemand – weder die Miliz noch irgendein Sicherheitsdienst – wird dich stoppen. Und wenn sie dich schon einmal anhalten – dann streckst du ihnen ein paar Mäuse hin, hundert Dollar, und: ciao, mein Lieber!“

Aus der Erfahrung, dass die korrupten Staatsorgane die BürgerInnen nicht schützen konnten, zieht so mancher sogar den Schluss, dass sie die Katastrophe bewusst in Kauf nahmen – um die Situation zu destabilisieren und dann die anstehenden Wahlen zu verhindern.

Zwischen acht Uhr abends und ein Uhr nachts sind jetzt die „Elektritschki“, S-Bahnen, die den Moskauer Umland zustreben, überfüllt. Wer eine Datscha hat, übernachtet dort. Und wenn er sich wegen des langen Arbeitswegs auch nur ein paar Stunden Schlaf gönnen kann, dann ist dieser Schlaf wenigstens tief und angstfrei. Dafür stellt jede Fahrt eine kleine Mutprobe dar. Auf die tägliche Frage „was explodiert als nächstes?“ steht an erster Stelle die Antwort „eine Elektritschka“. Die hunderte von Kilometern unter freiem Himmel verlaufenden Trassen lassen sich kaum überwachen.

Längst nicht jeder kann die Stadt so einfach verlassen. Die Politologin Swetlana Aiwasowa sitzt mit einem gebrochenen Zeh im Gips zu Hause. Nein, sie verspüre keine Panik, sagt sie, und gibt dennoch zu, dass sie in den Nächten vor dem ersten und dem zweiten Anschlag kein einziges Mal vor sechs Uhr früh einschlafen konnte: „Und dann habe ich noch ein Täschchen mit den wichtigsten Dokumenten neben mein Bett gelegt“.

Aber um ihre Person fürchte sie am wenigsten, betont Swetlana noch einmal: „Als Politologin verstehe ich, dass wir das Schlimmste noch vor uns haben. All das Geld, das im Süden verdient wird – mit Narkotika, Waffen und Erdöl – das alles wird doch hier in Moskau realisiert.“ Und noch etwas sorgt sie: „Ich habe Angst, dass die Atmosphäre der Repressionen auch die russische Frauenbewegung vorläufig erstickt.“

Wer weniger zu Analysen neigt, reagiert seine Aggressionen an den südländischen Nachbarn ab. Sie werden die ersten Opfer von Schikanen bei dem obligatorischen Umtausch der Meldepapiere, den alle nur als Gäste in Moskau registrierten BürgerInnen jetzt vornehmen müssen. In sonst durchaus demokratischen Massenmedien werden rassistische Töne laut. Das Fernsehmagazin Vremetschko des Privatsenders TV-Zentr stellte in einer Telefonumfrage seine Zuschauer vor die Wahl: „Wen müsste man aus Moskau ausweisen: alle Tschetschenen, alle Kaukasier oder alle Banditen?“ Hunderte riefen an. Die meisten waren für die Ausweisung aller Kaukasier aus der russischen Hauptstadt.

Die Tschetschenin Chadischat verbirgt sich zur Zeit mit ihrem zwei Monate alten Söhnchen Abdul-Rahman in einem Moskauer Apartmenthaus. Vor die Haustür wagt sich die 31-jährige Frau mit ihrem eindeutig südländischen Appeal nur ausnahmsweise. Sie war für die Geburt nach Litauen gefahren und macht hier auf dem Rückweg Station. Das tschetschenischen Gesundheitswesen existiert nicht mehr und auf ein eigenes Kind hat Chadischat lange gewartet.

Nun ist Ehemann Malik gekommen, um sie heimzuholen. Anfang dieser Woche wollen die beiden versuchen, sich nach Hause durchzuschlagen. In der langen kinderlosen Phase ihrer Ehe haben sie in der vom Elend gebeutelten tschetschenischen Hauptstadt Grosny ein privates Waisenhaus gegründet. Acht Mädchen und 22 Jungen warten dort auf die beiden, alle Kriegswaisen, eine buntgemischte Gesellschaft verschiedener Nationalitäten: UkrainerInnen, RussInnen, eine Avarin. Ungeachtet ihrer Herkunft schrieben alle Kinder als Familiennamen den ihrer Zieheltern auf ihre Schulhefte: Gatajew. Das war, als sie noch zur Schule gingen. Heute fordern die Lehrer pro Kind und Monat 150 Rubel (zirka 13 Mark). So viel können die Gatajews nicht aufbringen.

Das tschetschenische Ehepaar lebt in einer Welt, deren tragende Säulen täglich einstürzen. Deshalb haben die Bombenanschläge in Moskau die beiden nicht besonders überrascht. „Wie viele Tschetschenen verfluchen wir alles, was dieser Tage hier, in der Hauptstadt passiert“, erklärt Malik. „Aber zwischen den Terroristen, die diese Bomben gelegt haben und den russischen Piloten, die in unserem Land friedliche Häuser zerbombten, besteht kein Unterschied. 120.000 Zivilpersonen wurden in den zwei Kriegsjahren bei uns ermordet. Und trotzdem habe ich nie das russische Volk als Ganzes dafür verantwortlich gemacht.“

Überraschend rigide äußert sich Malik über die ständig in der russischen Hauptstadt lebenden Tschetschenen: „Ich würde die Hälfte von ihnen sofort hinter Gitte setzen. Die haben gemeinsam mit russischen Hochstaplern den Krieg in unserem Land angezettelt und daran verdient. Jetzt bezahlen ihnen die russischen Führer Geld dafür, dass sie hier Verbrechen begehen – damit die Russen danach wieder neue Gründe haben, uns zu bombardieren.“ Er hat kaum zu Ende gesprochen, da wird in den Fernsehnachrichten Premier Putin gezeigt, der erklärt, die föderale Armee werde von nun an Tschetschenien wieder flächendeckend bombardieren.

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