■ Filmstarts a la carte: Pädophiler Spielball
Eigentlich mochte sich kaum jemand so recht für Stanley Kubricks Adaption von Nabokovs Roman „Lolita“ begeistern. Immer wieder wurde dem Regisseur Verrat vorgeworfen: weil das vorpubertäre Nymphchen des Romans im Film zum drallen weiblichen Teenager mutiert, und weil Kubrick den pädophilen Literaturdozenten Humbert Humbert – bei Nabokov Täter und Opfer, diabolisches Monster und kläglicher Wicht gleichermaßen – als alleiniges tragikomisches Opfer präsentiert. Kubrick zeigt Humbert als Spielball der anderen Figuren: ausgenutzt von Lolita, veralbert von ihrer großen Liebe Quilty, betrogen von beiden. Eigenständige Qualitäten besitzt Kubricks „Lolita“ als Parodie eines Melodrams, wie bereits die erste Sequenz, das vorweggenommene Ende der Geschichte, verdeutlicht: Während Humbert (James Mason), der den Dramatiker und Drehbuchautor Clare Quilty (Peter Sellers) wegen dessen Beziehung zu Lolita (Sue Lyon) erschießen will, verzweifelt versucht, Quilty die Gründe für den geplanten Mord auseinanderzusetzen, ridikülisiert der betrunkene Dichter Humberts übersteigerte Gefühle gnadenlos. Er imitiert beim Anblick von Humberts Pistole die Stimme eines Westernstars, nötigt dem verwirrten Mörder ein Pingpongspiel auf und spielt am Klavier die Auftaktakkorde einer Chopin'schen Polonaise, bei deren Klängen er vorschlägt, sich gemeinsam einen Text dazu auszudenken und die Profite zu teilen. Was der betrogene Liebhaber Humbert tödlich ernst nimmt, ist für Quilty nur ein Spiel und nie etwas anderes gewesen. „Lolita“ funktioniert vor allem als Schauspielerkino, in dem lange Einstellungen den Akteuren Zeit und Raum zum Spielen geben. Neben Sellers mit seinen absurden Improvisationen brilliert hier insbesondere Shelley Winters als Lolitas Mutter: Die Szene, in der sie als halbgebildete, sexhungrige Vermieterin mit Humbert das Haus besichtigt – über mehrere Stockwerke und durch diverse Räume, von Kubrick in einer einzigen Einstellung gefilmt – ist eine einzige komische Tour de force. Und in diesen Momenten schwarzer Komödie befindet sich Kubrick dann durchaus in Übereinstimmung mit Nabokov, der seine Titelheldin am Ende philosophieren lässt, ihr Leben sei nichts anderes als eine Serie von Gags.
„Lolita“ 23.9.-29.9. in den Tilsiter Lichtspielen
Einen Klassiker nicht nur der schwedischen Filmgeschichte zeigt das Filmmuseum Potsdam mit Victor Sjöströms „Körkalen“ (Der Fuhrmann des Todes). Das Stummfilmdrama um die moralische Läuterung eines Trinkers und Tunichtguts (ebenfalls Sjöström) besticht noch heute mit der exzellenten Trickfotografie von Julius Jaenzon (die Geistererscheinung des Fuhrmanns und seines Karrens, der die Seelen der Verstorbenen abtransportiert, wurde durch Doppelbelichtungen erzeugt), und wies 1921 mit seiner komplizierten Erzählstruktur (Rückblenden in der Rückblende, Vermischung von Realität und Fantasie, indirektes Erzählen) neue Wege zur Perfektionierung der stummen Filmkunst.
„Der Fuhrmann des Todes“ 24.9., 26.9. im Filmmuseum Potsdam
Mit Mrinal Sen stellt das Arsenal bis zum 8. Oktober einen der bedeutendsten Regisseure Indiens in einer neun Filme umfassenden Retrospektive vor. Eröffnet wird die Reihe am kommenden Sonntag mit „Khandar“(The Ruins) aus dem Jahre 1983; Mrinal Sen und Gita Sen werden als Gäste erwartet.
„Khandar“ (Om engl U) 26.9. im Arsenal; Mrinal-Sen- Retrospektive bis 8.10.
Lars Penning
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