piwik no script img

Kalkül und Heimkehr

Ankunft im Jazzadel mit Miles-Davis-Variationen: Cassandra Wilson ist die erfolgreichste Jazzsängerin der Dekade. Der Weg dahin war weit und verschlungen  ■    Von Maxi Sickert

In ihrer Wohnung ist das Jazz-Klischee noch in Ordnung: Sie lebt in Upper Manhattan im „Harlem House“, wo auch Duke Ellington einst wohnte. Überall finden sich afrikanische Masken und Skulpturen. Über der Stereoanlage hängt ein großes Ölbild, das Billie Holiday und Abbey Lincoln in einem Pariser Café zeigt. Und auf dem Sofa wird ihre tiefe Stimme mit Nikotin gefüttert – diese Stimme, die oft eintönig klingt, manchmal müde, immer bedeckt, nach Dunkelheit, Regen und Winter.

Die Zahlen sprechen für sie: Während im Jazz 50.000 verkaufte Platten schon viel ist, wurde ihr letztes Album „New Moon Daughter“ über zwölfmal so oft verkauft. Ihr aktuelles Werk „Traveling Miles“ scheint diesen Rekord noch zu übertreffen. Sie ist der Star im Traditionshaus Blue Note Records, andere Plattenfirmen mühen sich vergeblich, sie abzuwerben. Gerade wurde sie von der Jazz-Zeitschrift Down Beat zum vierten Mal in Folge zur „best female jazz vocalist“ gekürt, und für „New Moon Daughter“ erhielt sie einen Grammy. Kurz: Cassandra Wilson ist derzeit die erfolgreichste Jazzsängerin.

Trotzdem – oder gerade deswegen – spaltet sie die Fachkritik: Für die einen hat sie mit dem leichtfüßigen Wechsel zwischen Jazz, Soul, Pop und Blues, stets getragen und erleuchtet von ihrer seltsam nasal tönenden Stimme, das Spektrum des Jazz erweitert. Für die anderen sind die Texte ihrer Songs nichtssagend und, wie es in einem der Standard-Nachschlagewerke des Jazz heißt, „ihre Musik ebenso langweilig wie ihre Stimme“. Tatsächlich ist ihr Gesang gewöhnungsbedürftig. Betont langsam und fast leidend erzählt sie vom Verlust der Liebe, singt über Kindheit, Seele und Tod. Während sie auf Plattencovern sehr körperbetont und sinnlich wirkt, scheint sie in ihrer Musik und in ihren Texten unnahbar und abweisend.

Sie war knapp 30, als sie ihre erste Platte aufnahm, und sie spielte von Anbeginn mit Free-Funk-, World-Fusion- und traditionellen Jazzelementen. Erst ihr drittes Album, „Blue Skies“, auf dem sie ausschließlich Jazzstandards interpretierte, brachte sie in den Ruf einer ernst zu nehmenden Jazzsängerin. Prompt wurde die Platte von Billboard zum Jazzalbum des Jahres gewählt. Von da an traute sie sich nicht mehr, Joni Mitchell als Einfluss zu nennen, und sprach stattdessen von Billie Holiday und Betty Carter. Doch der kommerzielle Erfolg blieb weiterhin aus. Nachdem ihr 92er Album „Dance To The Drums Again“ eine schöpferische Sackgasse dokumentierte, kam die Wende mit dem Wechsel zu Blue Note und zum Produzenten Craig Street, der ihr empfahl, sich eher in eine bluesorientierte Richtung zu bewegen. Er ermunterte sie, zu ihren Einflüssen zu stehen, die im Bereich weißer Folk- und Rockmusik liegen.

Zwischen Waschbrett, Dobro und Gitarre

Kalkül oder Heimkehr? Seitdem jedenfalls forscht sie in den Erinnerungen an ihre Kindheit im Mississippidelta und nennt es spirituelle Erneuerung und Wiederauferstehung, in Interviews spricht sie aber auch von innerer Zerrissenheit und dem Gefühl, schizophren zu sein. Geboren im Dezember 1955, ist sie aufgewachsen zwischen Waschbrett, Dobro und Gitarre, der Jazzplattensammlung ihres Vaters und den Folk- und Bluessongs aus dem Radio. Es ist die Zeit der Rassenunruhen im Süden, doch Wilsons Jugend scheint davon unberührt gewesen zu sein, kein Hinweis findet sich in ihrem Schaffen. Sie lernt Gitarre und Klavier und hört viel Joni Mitchell. Erst durch die Black Arts Music Society in Jackson kommt sie als Sängerin zu der Musik, die sie als die ihre annimmt, zum Jazz. Weitere Stationen sind New Orleans und ab 1982 New York, wo sie mit dem früheren Miles-Davis-Bassisten Dave Holland arbeitete und als Backgroundsängerin für Abbey Lincoln. In dieser Zeit traf sie in Brooklyn auf Saxofonist Steve Coleman, in dessen M-Base-Kollektiv ihre Stimme sirenenartig mit dem harten Funkrhythmus der Band interferierte.

Steve Coleman, der sich sonst nie als Sideman unterordnet, ist auch wieder dabei auf dem Titelstück zu Cassandra Wilsons aktuellem Album. Viele ihrer Weggefährten hat sie für die Aufnahmen zu „Traveling Miles“ um sich versammelt, ihrem Tribut an den Übervater – ein ambitioniertes Unterfangen, das Cassandra Wilsons endgültige Ankunft im Jazzadel markiert. Nachdem sie mit Wynton Marsalis gesungen hatte, bekam sie vom Jazz at Lincoln Center in New York – der größten US-Jazzinstitution, der Marsalis vorsteht – für ihr Projekt einer Miles-Davis-Hommage den gut dotierten Auftrag für eine Konzertserie. Anschließend ging es ins Studio. „Traveling Miles“ ist durch und durch eine ehrfürchtige Verneigung vor Miles Davis, dessen Konzert sie einmal eröffnen durfte, den sie aber nie persönlich kennen gelernt hat. In einer sehr persönlichen Auswahl streift sie die gesamte Schaffensperiode des Vorbilds, für die meisten Stücke hat sie die Texte geschrieben. Davis hat, bis auf eine Ausnahme, nie mit Sängern gearbeitet, und er hatte dafür sicher seine Gründe. So gesehen, hat Wilsons Miles-Platte etwas sehr Bemühtes, gerade in ihrem paradoxen Bestreben, bei größtmöglicher Eigenart der Interpretation die Originale so wenig wie möglich anzutasten. Nach Miles Davis klingt die Würdigung letztlich kaum, umso mehr nach Cassandra Wilson. Ihre Stimme unterlegt und kontrastiert die Musik der Band, indem sie unverändert in Tonlage und Tempo bleibt. Das ist irritierend, kennt man die Vorlagen. Aber auf jeden Fall ihr unverwechselbares Kennzeichen. Tourneedaten: 27. 9. Hamburg, Stadthalle, 30. 9. Leipzig, Jazzfestival, 1. 10. Frankfurt, Alte Oper, 2. 10. Düsseldorf, Tonhalle, 3. 10. Stuttgart, Liederhalle

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen