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Verhängnisvolle Schuhe

■ Immer mehr Verletzungen in den Alpen wegen falscher Bergschuhe. Der wachsende Trend hin zum „Bergschuh light“ hat zunehmend schlimme Folgen für Bergwanderer

Samstagnachmittag, 16.20 Uhr. Das Telefon im Bergwachtdepot Oberstdorf schrillt. „Schon wieder“, entfährt es Bergwachteinsatzleiter Luggi Lacher. Zum sechsten Mal schon an diesem Wochenende werden die freiwilligen Berghelfer zum Einsatz gerufen. Und jedesmal ist es das gleiche Bild. Oben am Rauheck hat das Wetter umgeschlagen. Keine Seltenheit in 2.500 Meter Höhe. „Die stapfen bei schönem Wetter fröhlich drauf los, wissen nicht, wie schnell sich das Wetter in dieser Höhe ändert. Dann geht es für uns plötzlich um jede Minute.“

Eine 20-jährige Frau aus Stuttgart hat es diesmal erwischt. Mit einer 14köpfigen Gruppe von Arbeitskollegen und -kolleginnen ist sie erst gegen 10 Uhr losgezogen. Fünf Stunden werde die Tour vom Edmund-Probst-Haus zur Kemptener Hütte dauern, hatte ihnen ihr angeblich erfahrener Gruppenführer gesagt. Oberstdorfer Bergführer setzen freilich für die gleiche Strecke zehn Stunden an. Es kam genau so, wie es kommen musste. Die Frau verstieg sich, die Kraft ließ nach. Sie verlor den Anschluss an ihre Gruppe, rutschte aus, konnte sich gerade noch an einem Felsen festhalten, bevor es in die Tiefe ging. Und da hing sie. Mehr als eine Stunde lang. Bis jemand Hilferufe hörte, die Bergwacht alarmierte.

Zum Glück konnte der Rettungshubschrauber Christoph 17 die Absturzstelle relativ gut anfliegen. Denn lange hätte sich die Stuttgarterin nicht mehr halten können. Dann wäre die Frau das siebte Todesopfer allein in den Allgäuer Bergen in der diesjährigen Bergsaison geworden. Unvorsicht, ein permanentes sich Überschätzen, zu wenig zum Trinken dabei und vor allem: falsche Ausrüstung. Das sind die Hauptursachen für die Bergunfälle. 200 Einsätze hatten die Bergretter bislang in diesem Frühjahr und Sommer im Allgäu, 65 davon allein im südlichsten Bergdorf Deutschlands, in Oberstdorf.

„In 80 Prozent aller Fälle müssen wir ausrücken, weil die Leute einfach leichtsinnig sind“, sagt der Bergführer und Bergwachtmann Andreas Tauser. Und dann wartet er mit einer Information auf, die aufhorchen lässt. „Wir haben seit drei Jahren einen eklatanten Anstieg von Sprunggelenks- und Knöchelverletzungen, hervorgerufen durch falsche Bergschuhe.“ Am Sonntagabend wird Tauser mit seinen Kollegen zusammensitzen und Bilanz ziehen. Zwölf Einsätze werden in die Bücher eingetragen, und es wird einen Zusatzvermerk geben. „Achtmal waren es Knöchel- und Sprunggelenksverletzungen, allein vier davon mussten operiert werden. Allesamt haben Schuhe angehabt, in denen sie einfach umgeknickt sind.“

Nachdenklich sitzt Einsatzleiter Luggi Lacher mit am Tisch. „Wir glauben, dass 1999 der Spitzenreiter in Sachen Knöchel- und Sprunggelenksverletzungen wird, obwohl die Saison noch vier, fünf Wochen dauert. Wir haben heuer schon so viele Verletzungen in dem Bereich wie in den vergangenen beiden Jahren. Verglichen mit 1989 und 1990 liegen wir bei einem Anstieg von 25 bis 30 Prozent.“ Wohlgemerkt, die Bergwachtler sprechen nicht von den Hasardeuren, die glauben, mit Turnschuhen den Heilbronner Weg bewältigen zu können, sondern von Bergwanderern, die unten im Tal in gutem Glauben ultraleichte und superbequeme „Bergschuhe“ kaufen.

Es werden immer leichtere Bergschuhe, sogenannte Trekkingschuhe verkauft, kritisieren die Bergwachtmänner und finden die volle Zustimmung der drei Oberstdorfer Bergschulen. „Ein Bergschuh sollte eine stabile Gummisohle und einen guten Halt haben, er muss über den Knöchel gehen!“ Wer jemals eine Sprunggelenksverletzung auskurieren musste, der weiß, wie schmerzhaft und langwierig das sein kann. Auch namhafte Schuhhersteller verkaufen die Billig- oder Light-Schuhe. Regeln könne das nur der Kunde selbst, finden die Bergexperten. „Wenn der Verbraucher einen festeren Bergschuh will, dann wird sich die Industrie recht schnell darauf einstellen. Wenn er einen leichten Schuh verlangt, dann wird eben der hergestellt.“

Wer ins Hochgebirge will, dem empfiehlt der Schuhfachhändler Franz Schratt einen guten Einsteigerschuh für 279 Mark. Jahrelang würde der seinen Dienst tun. „Das sind die Schuhe, die auch die Einheimischen zum Bergwandern, viele sogar zur Arbeit anziehen.“ Was wichtig ist, wenn man Bergschuhe kauft: Man sollte das nicht an einem kühlen Tag Morgens tun, sondern am besten nach einer Wanderung oder zumindest am Nachmittag. Und: Am besten, man zieht zum Probieren die Socken an, mit denen man später wandern geht. Ob die Tips freilich befolgt werden, ist fraglich. Der Trend zum „Bergschuh light“, das wissen auch die Bergführer und Fachverkäufer, wird nicht so ohne weiteres zu brechen sein. Die Knöchel der Wanderer hingegen schon. Klaus Wittmann

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