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Das müde Knirschen in der Postmoderne

■  Das Ich ist ein Anrufbeantworter: Das Theater zum Westlichen Stadthirschen zeigt Martin Crimps Stück „Angriffe auf Anne“

Ich ist ein anderer. Das haben wir postmodernen Menschen schon mit der Muttermilch aufgesogen, können es im Schlaf nachbeten und fragen auch nicht weiter, warum uns trotzdem jeden Morgen immer das gleiche Gesicht im Spiegel entgegenmuffelt. Aber wenn schon Ich ein anderer ist – wer zum Teufel ist dann bloß Anne?

„Angriffe auf Anne“ heißt ein Theaterstück, das seit Ende September vom Theater zum Westlichen Stadthirschen gespielt wird. Ein Stück von Martin Crimp, das Falk Richter ins Deutsche übersetzt hat. Und mit den Angriffen auf Anne geht es schon los, bevor überhaupt ein Mensch die Bühne betreten hat. Ein Anrufbeantworter schnarrt seine Nachrichten ins Leere. Ein mutmaßlicher Liebhaber der mutmaßlichen Anne will sich versöhnen. Jemand anderes findet fantastisch, was sie geschrieben hat. Die Mutter will ihr kein Geld mehr geben, und ein Mann droht schließlich ganz und gar unanständig mit Mord. Aber das Zimmer bleibt leer. Niemand sitzt auf dem Sofa, keiner auf dem Sessel neben dem Gerät. Irgendwo steht „Anne“ an die Wand gekritzelt. Ganz hinten das überlebensgroße Porträt einer Frau mit Sonnenbrille. Das könnte Anne sein, muss aber nicht. „Alle Nachrichten gelöscht“, sagt dann der Anrufbeantworter abrupt und das Licht geht aus.

In der nächsten Szene sehen wir dann noch immer nicht Anne, sondern einen Mann und eine Frau, die ein hektisches Gespräch miteinander führen und sich dabei langsam entkleiden. Offensichtlich entwickeln beide im Dialog ein Filmszenario, in dem auch eine gewisse Anne eine Rolle spielt. Was wiederum Zweifel weckt am Wirklichkeitsgehalt der ersten Szene. Und das Verwirrspiel geht weiter. Plötzlich ist Anne eine Frau, die einem Massaker entkam. Dann Terrorstin, Vogue-Titelmädchen, zerstückelte Kinderleiche, Reiseleiterin, Pornodarstellerin, Partygirl, Selbstmörderin. Nie tritt sie selbst in Erscheinung, immer wird über sie nur geredet. Dabei heißt sie nicht bloß Anne, sondern auch mal Anja, Anny oder Anuschka. Keine Information ergänzt die andere zu einem schlüssigen Bild.

„The Camera loves you!“, singen plötzlich zwei schrille Damen. Zwei Männer mit Napoleonhüten essen wie wild Erdnüsse. Ein spießiges Paar, das behauptet, Annes Eltern zu sein, betet vollkommen flüssig den philosophischen Diskurs der 80er-Jahre nach: „Anne ist keine Person, eher ein Mangel an Person, eine Abwesenheit.“ Regisseur Rhys Martin gestaltet nun diese Abwesenheit mit rasendem Willen zu Komik und Kostümanie. In rasant wechselnden Rollen folgen ihm dabei Maria Gräfe, Ayobamidele Leonhardt, Hildegard Schroeter, Dominik Bender, Johannes Herrschmann und Stephan Samuel. In ihren Verkleidungen decken sie locker vier Jahrhunderte und mindestens drei Kontinente ab. Es geht um Anrufbeantworter, Außerirdische, Tomatenstauden in Margarinenschachteln, Massaker, um Hitler, die Heilsarmee, den Papst und die Teilchenphysik.

Da wird man als Zuschauer auf die Dauer ein wenig matt. Während der Reifrock einer Rokokodame raschelt, die – an eine Säule gelehnt – wieder von Anne spricht, beginnt die Konstruktion des Stückes ziemlich zu knirschen. Ach, denkt man dann, die Postmoderne war doch eine recht ermüdende Angelegenheit. Gut, dass sie zu Ende ist. Schade bloß, dass Martin Crimp es noch nicht mitgekriegt hat. Esther Slevogt ‚/B‘Mi – Sa, ab 20 Uhr, im Theater zum Westlichen Stadthirschen, Kreuzbergstr. 37

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