Die neunmalige Rache des Dr. Konter

■ Wie der Sci-Fi-Autor Bernhard Kempen sich die Zukunft der Gehirnforschung vorstellt

Wie lange ist sie schon tot?“ „Seit höchstens drei Stunden.“ „Ausgezeichnet! Dann sollten wir keine Zeit verlieren.“ Der Notarzt schüttelte erneut den Kopf. Die hektische Aufregung begriff er nicht. Als man ihn an den Tatort gerufen hatte, war die junge Frau bereits tot gewesen. Vergewaltigt und mit einem Messer ziemlich übel zugerichtet. Eine schlimme Sache, aber als Notarzt wurde man ständig mit solchen Fällen konfrontiert. Und es war wie immer ein ruhiger Job für ihn gewesen – zumindest zu Anfang. Er hatte wie üblich ohne Hast den Tod festgestellt, und dann dafür gesorgt, dass die Leiche fortgeschafft wurde.

Doch diesmal hatte er unterwegs einen Anruf erhalten. Er sollte die Tote in die Universitätsklinik bringen. Er war den Sanitätern gefolgt, die die Bahre durch menschenleere Korridore geschoben hatten, bis sie diesen kleinen Raum erreichten, wo der Mediziner, der sich als Dr. Penser vorgestellt hatte, die Leiche so freudig in Empfang genommen hatte. „Wenn Sie glauben, dass Sie die Tote wieder beleben können, muss ich Sie enttäuschen“, sagte der Notarzt und betrachtete das Durcheinander aus Blechkisten, Kabeln und Monitoren, mit dem Dr. Penser hantierte. „Der Täter hat ganze Arbeit geleistet. Allein die Stichwunden im Herz sind ...“.

„Das Herz interessiert mich nicht“, erwiderte der Universitätsmediziner ungeduldig. „Es genügt mir, wenn das Gehirn einigermaßen intakt ist.“ Der Notarzt beobachtete schweigend, wie sein Kollege nun Elektroden am Kopf der Leiche befestigte und einen Bildschirm einschaltete. „Wir wollen einen Memory-Scan durchführen“, ließ sich Dr. Penser endlich zu einer Erklärung herab. „Mit dieser Vorrichtung können wir den Gedächtnisinhalt der jungen Dame auslesen und die visuellen Daten auf dem Bildschirm sichtbar machen. Und wenn wir Glück haben, ist etwas Brauchbares dabei.“

Jetzt konnte sich der Notarzt plötzlich erinnern, vor einiger Zeit etwas über diese neue Technik gelesen zu haben. „Sie haben es tatsächlich geschafft, die Verbindung zwischen elektronischen und neuralen Impulsen so abzustimmen, dass ein Datenfluss in beide Richtungen möglich ist?“, fragte er erstaunt. „Dr. Konter hat uns ein nützliches, aber auch schweres Erbe hinterlassen“, sagte der Mediziner. „Er stand kurz vor dem Durchbruch zur Anwendungsreife, als er von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand. Wir haben es vor kurzem geschafft, die neuronalen Phasenschwankungen in den Griff zu bekommen, sodass wir zumindest Daten von biologischen auf elektronische Medien übertragen können.“

„Beeindruckend“, murmelte der Notarzt. Das heißt, wenn diese Frau ihren Mörder gesehen hat, erhalten Sie ein Fahndungsfoto.“ „Wir sollten uns nicht zu früh freuen“, wiegelte der Mediziner ab, „immerhin könnte der Täter maskiert gewesen sein.“ Der Notarzt kam näher, als sich auf dem Bildschirm etwas tat. Zunächst waren nur undeutliche Schlieren zu erkennen, dann schälten sich Gesichter aus dem Nebel, eine Straße, Schaufenster, nichts sagende Gesichter von Passanten.

„Wie wollen Sie aus all den Erinnerungen eines Lebens ausgerechnet den Zeitpunkt des Todes herausfiltern?“, fragte der Notarzt. „Ganz einfach – wir suchen nur im Kurzzeitgedächtnis“, sagte Dr. Penser. „Es hat eine sehr typische Signatur, auf die ich die Sensoren eingestellt habe.“ Er zeigte auf einen Monitor, über den verschiedene Wellen, die Gehirnströme der Toten, wanderten. „Da!“, rief er plötzlich. „Das ist der Tatort!“ Plötzlich war auf dem Bildschirm der verlassene Hinterhof zu sehen, wo man die Tote aufgefunden hatte. Dann schob sich ein Gesicht ins Bild, das Gesicht eines Mannes im mittleren Alter mit langen schwarzen Haaren. Eine schnelle Bewegung, etwas, das in seiner rechten Hand aufblitzte, dann zwischen tristen Dächern ein abendlicher Himmel, der rasch dunkler wurde. Die Dämmerung des Todes, dachte der Notarzt, als er die letzten Eindrücke der Sterbenden betrachtete.

Dr. Penser hatte atemlos das Geschehen verfolgt und schenkte den anschließenden Bildern – offenbar die letzten Zuckungen Gehirns – nur wenig Beachtung und wandte sich einem anderen Monitor zu. Dort spulte er die Aufzeichnung vor und zurück, setzte eine Bildbearbeitungssoftware ein, und konnte schließlich ein Standbild abspeichern, dessen Qualität zwar nicht die einer Fotografie erreichte, aber die unverwechselbaren Gesichtszüge eines Mannes – des Mörders dieser Frau – zeigte. „Gratuliere!“, sagte der Notarzt. „Mit diesem Fahndungsbild dürfte der Kerl in kürzester Zeit identifiziert sein.“ Er warf einen Blick auf die Leiche. „Leider ist ihr damit nicht mehr geholfen.“ „Wir haben schon eine Menge erreicht, wenn sich jeder potenzielle Mörder von nun an bewusst machen muss, dass es immer einen letzten Zeugen für seine Tat gibt“, sagte Dr. Penser.

Der ältere Mann mit der Halbglatze stand zitternd auf, als sich die Erregung des Blutrausches verflüchtigte. Es war schon die neunte Frau, die seinem Trieb zum Opfer gefallen war. Es hatte vor knapp einem Jahr begonnen, als sich sein Leben grundlegend verändert hatte. Er hatte seine Familie, seine sichere Anstellung, seine geordnete Existenz aufgegeben – aber nicht sein Lebenswerk. Nachdem er sich das Blut von den Händen gewischt hatte, zog er ein kleines Gerät aus einer Tasche. Er drückte die Kontaktfläche gegen den Schädel der Toten und aktivierte die Löschfunktion. Nachdem das Kurzzeitgedächtnis der jungen Frau ausradiert war, überspielte er die künstlichen Erinnerungsdaten, die er vorbereitet hatte. Es war kein besonderes Problem gewesen, die Szenen vom Tatort und ein beliebiges Gesicht zusammenzustellen und dem Ganzen zum Schluss noch den verwaschenen Touch einer menschlichen Erinnerung zu geben. Er wusste genau, dass sich die Entwicklung des Memory-Scanners nicht aufhalten ließ – schließlich hatte er selbst die Grundlagen dafür gelegt. Aber seine Kollegen würden noch Jahre brauchen, bis sie den Vorsprung eingeholt hatten, den Dr. Konter sich verschafft hatte.