: Über die Ränder der Kamera hinaus
■ Das Metropolis ehrt den belgischen Avantgarde- und Dokumentarfilmer Henri Storck
Er träume davon, in Super-8 Briefe zu schreiben, soll der avantgardistische Film-Essayist Chris Marker in den 60er Jahren einmal gesagt haben. Und was für ein Traum das gewesen sein muss, der Traum vom ,camera stylo': Der Film solle nicht nur Illusionstheater, Guckkasten oder Fingerabdruck sein – nein, Kommunikationsmittel, Waffe im Kampf um eine andere Welt; eine Wunsch- und Schreibmaschine, deren Möglichkeiten längst nicht ausgeschöpft schienen. Und vor allem: Eingreifen in die Wirklichkeit sollte das Kino. Noch eine Generation vor Marker hat ein Mann auf das Paradoxeste erlebt, was das heißen könnte: Henri Storck, Surrealist, Bohémien, Antifaschist, Dokumentarfilmer – und einer der Gründer des belgischen Kinos.
Es war die Zeit der sozialen Kämpfe am Vorabend des Faschismus und des Übergangs zum Tonfilm. Der 1907 in Ostende geborene Storck trieb sich mit französischen Malern herum, hatte einige Avantgardefilme gedreht, Jean Vigo bei seinem epochalem Anarchisten-Klamauk Zéro de conduit/Betragen ungenügend assistiert, um sich dann, angetrieben von den politischen Verhältnissen, zusammen mit Joris Ivens einem konventionelleren Sujet zuzuwenden. Die unmittelbare Realität wollten sie darstellen, die der Kohlearbeiter im belgischen Borinage.
Borinage, so der Titel ihrer polemischen Dokumentation, verzichtete auf Profi-Schauspieler, alles sollte so verité sein wie nur möglich – allenfalls hier und da vielleicht ein Ereignis rekonstruiert werden. Rekonstruiert wurde unter anderem eine Demonstration am Todestag von Karl Marx, bei der die Arbeiter zu dessen Ehren mit Portraits durch die Straßen gezogen waren. Doch aus dem filmischen Ereignis wurde ein politisches: Viele der Slumbewohner hielten die Nachstellung für eine echte Demonstration, schlossen sich ihr an, jubelten – und irgendwann schritt die Polizei ein, um die verbotene kommunistische Zusammenrottung gewaltsam aufzulösen.
Die ursprüngliche Liebe zum Surrealismus und der Malerei sollte Storck jedoch sein Leben lang nicht verraten. Mindestens so bekannt wie die sozialen Dokumentationen sind seine Maler-Portraits: sei es Rubens oder Le monde de Paul Delvaux, mit dem er in den nachkriegsjahren seinen als ,entartet' verfehmten Freund zu rehabilitieren suchte. In ihnen erweist sich Storck als sensibler Kenner beider Medien und ihrer Unterschiede: Den Mangel an Farbe macht er durch Filmtricks und Gespür für Komposition wett, fügt Bewegung und Kadrierung seinen Bildern von Bildern hinzu.
Am 17. September starb Henri Storck im Alter von 92 Jahren. Thomas Tode, Hamburger Filmpublizist und ausgewiesener Kenner des Avantgarde-Kinos, ehrt ihn heute mit einem Vortrag und einem Programm früher Kurzfilme: Vertovsche Wochenschau-Montagen finden sich da neben graphischen Bewegungs- und Naturstudien, Politisches platziert sich neben surrealem Humor. Darüber vergisst man fast, was Storck Zeit seines Lebens proklamierte: dass Kino auch immer Betrug am Realen ist. Das wissen wir heute viel zu gut. Tobias Nagl
heute, Metropolis, 19 Uhr
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