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Anschlussfähig

Alles kommentieren: Der Performer Thomas Lehmen eröffnete die tanzZeit-Reihe am Halleschen Ufer  ■   Von Katrin Bettina Müller

Thomas Lehmen liest aus seiner Sammlung alter und neuer Ideen. Die alten Ideen, erklärt der Performer lapidar, seien oft nicht realisiert worden: aus Faulheit, Mangel an Zeit, Geld, Mut und fehlendem Vertrauen in ihre Notwendigkeit. Ganz am Ende seines Stücks „distanzlos“, das am Mittwoch im Theater am Halleschen Ufer (THU) uraufgeführt wurde, erzählt er von einem verschütteten Bergmann, der nur durch seine Überzeugung, dass andere ihn suchen und retten werden, 10 Tage in einer Luftblase überlebt hat. Da weiß man plötzlich, was für eine Verbundenheit mit dem Publikum Lehmen herbeisehnt. Sein Stück aber handelt vielmehr von den Gründen, warum die Kunst nicht wie das Leben selbst funktioniert.

Viele Stichworte drehen sich um die Paradoxien der Performance, die das Erlebnis und seine symbolische Auswertung zugleich will: „Performance, so sein wie ich bin“, „alles kommentieren“, „dreimal unverhofft zusammenbrechen“. Nur Weniges führt Lehmen auf der Bühne aus, dann aber erschreckend intensiv, wie „Todeskriechen“: Mit dem Mikrofon im Mund schiebt er sich am Boden vorwärts, und man weiß nicht, ob die Atemgeräusche mehr an die letzten Japser Sterbender oder das Stöhnen im Koitus erinnern.

Tanz ist den Künstlern der elf Produktionen, die im THU in der tanzZeit bis zum 5. Dezember auftreten, kaum noch eine selbstverständliche Sprache. Er wird vielmehr in den verschiedenen Kontexten der Kunst auf seine Anschlussfähigkeit getestet. Aus Hamburg kommt die Gruppe labor G. Ras, die seit 1995 in ihren numerierten „Idyllen“-Stücken das Experiment einer demokratischen Organisation und Gleichberechtigung zwischen Tanz, Musik, Licht und Film fortsetzt. Videos aus Prag, New York, Hong Kong und Amsterdam bilden den Ausgangspunkt für Sabine Dehnes „City Voices“ vom Het Veem Theater Amsterdam. In einer begehbaren Camera Obscura verfolgt die Berliner Künstlerin Heike Hamann in der Installation „Blickkontakt“ die Brüche zwischen Erfahren und Beobachten.

Wiederaufgenommen wird „Blown Away“ des schriftbesessenen Jo Fabian. Er überschüttet sein Publikum zwar mit Zeichen und Leseanleitungen. Doch durch die nicht zu bewältigende Informationsflut hindurch lenkt er den Blick auf die Tänzerinnen, die ein knappes Material von Bewegungen so unterschiedlich im Zeitmaß interpretieren, dass man sich völlig an das Staunen verlieren kann. Am Ende befreit sich der Tanz bei Fabian wieder aus allen Kontextualisierungen.

Das Gleiten quer durch die Kunstformen ist für Howard Katz Firehart Teil seines Lebens. Er ist Tänzer, Choreograph, Artist, Komponist, Sänger und nicht zuletzt ein Amerikaner in Berlin, der sich in Deutschland nach seiner Identität als Jude zu fragen begann. Ihn beschäftigen Rituale als Überbleibsel der Vergangenheit und Form der Erinnerung. In „Fake Book“ werden daraus Spiele und Wettkämpfe dreier Tänzer.

Für das Theater am Halleschen Ufer zahlt sich im Programm der tanzZeit die lange Zusammenarbeit mit vielen Künstlern wie Lehmen, Fabian und Anna Huber aus. Mit Hubers erstem Duo „L'autre et moi“ mit Lin Yuan Shang begann das Programm, mit ihrem Gruppenstück „die anderen und die gleichen“ endet die tanzZeit. Nach ihren Solos, die jede Bewegungskonvention in Frage stellten und eine sperrige Körperarchitektur in einen leeren Raum schrieben, wird dieser Raum jetzt von vielfältigen Energien besetzt. Endlich gewinnt das Vergnügen an der Verwandlungskraft des Körpers die Oberhand gegenüber den Darstellungsverboten.

tanzZeit, Theater am Halleschen Ufer, bis 5. Dezember

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