: Eine Regierung auf der Suche nach dem Volk
■ Die USA wollen die Oberaufsicht über das Internet behalten. Damit der Rest der Welt einverstanden ist, soll die „Internet Corporation for Assigned Names and Numbers“ allgemeine Wahlen im Cyberspace organisieren
Der Begriff des Netzbürgers ist bis heute eine bloße Metapher geblieben, ein konzentrierter Ausdruck der politischen Hoffnungen, die mit dem Internet Mitte der 90er-Jahre verbunden waren. Die Pioniere, vornehmlich in Kalifornien zu Hause, glaubten, das Netz der Netze werde eine weltweite Plattform der Freien und Gleichen sein, ein einziges Reich der Brüderlichkeit und Toleranz. Die technischen Revolutionäre an der Schwelle des 21. Jahrhunderts sind politisch Kinder der Französischen Revolution geblieben.
Im öffentlichen Bewusstsein überlagern heute handfestere, wirtschaftliche Perspektiven die politischen Fantasien der Gründer. Doch die technischen Grundlagen des Internets setzen beiden, den Propheten der Freiheit wie den Managern des E-Commerce, weit engere Grenzen, als ihnen lieb ist. Die Kommunikation unter Computern ist gebunden an Protokolle und Standards, um die sich traditionellerweise die amerikanische Regierung gekümmert hat. Ab September des nächsten Jahres wird diese Aufgabe die Internet Corporation for Assigned Names an Numbers (ICANN) übernehmen. Die eigens dafür unter Obhut der Clinton-Regierung gegründete Non-Profit-Organisation soll die Vergabe der Internetadressen neu regeln, neue Standards für Internetprotokolle entwickeln und das Root-Server-System organisieren.
Wer die technische Infrastruktur des Netzes kontrolliert, entscheidet auch darüber, wie es genutzt wird. Beobachter des Cyberspace, wie der amerikanische Jurist David Post, meinen deshalb, dass ICANN eine Art Regierung werden wird, und auch den Washingtoner Strategen war klar, dass sie nicht einfach per Dekret die Macht im Cyberspace übernehmen können. ICANN braucht eine Legitimation, die Kontrollinstanz muss nicht nur von Experten, sondern auch von der ideellen Gesamtheit der Surfer anerkannt werden. Im Geiste des amerikanischen Pragmatismus hat das Wirtschaftsministerium ICANN aufgefordert, weltweite Wahlen im Internet zu veranstalten.
Stolz verkündet ICANN auf ihrer Website (www.icann.org): „Dies wird das erste Mal sein, dass jedes interessierte Mitglied der globalen Internetgemeinschaft die Möglichkeit hat, an Onlinewahlen für Internetpolitiker teilzuhaben“. Mitten im Goldrausch der Netzgeschäfte ist damit der fast vergessene Netzbürger wieder auferstanden. Wir Surfer sind das Volk. Das zumindest glaubt der Vorsitzende der Markle Foundation, Zoä Baird. Er sagt: „Das Management des Internets durch eine Privatorganisation wird nicht stabil oder legitim sein, wenn diese Organisation nicht in entsprechendem Maße die Stimme des Volkes einbezieht.“
Baird hofft, dass ICANN ein Beispiel dafür sein wird, „wie in Zukunft Regierungsorganisationen arbeiten müssen“. Tatsächlich legen die Statuten fest, dass neun Direktoriumsmitglieder der ICANN von einer „At-Large-Membership“ gewählt werden müssen – also einer Art digitaler Weltbürgerschaft. Die alten Fragen kehren zurück, die schon von Demokratieutopisten für Wahlen zur UN-Vollversammlung erfolglos diskutiert worden sind: Wie kann eine weltweite Wählerschaft organisiert werden? Wie werden die Kandidaten nominiert? Welches Wahlrecht wird angewandt? Wie können die Regeln einer demokratischen Wahl – Transparenz, Gleichheit und direkte Repräsentation – eingehalten werden? Und: Wer ist ein Bürger des Internets?
Inzwischen diskutieren auch Gremien der EU darüber. Eine Arbeitsgruppe der Brüsseler Kommission schlägt von, dass ein „At-Large-Council“ mit achtzehn Mitgliedern gewählt wird, zwei aus jeder der fünf Weltregionen und der Rest global. Das Wahlvolk soll Internet-Bürgerpool von jeweils mindestens 5.000 Mitgliedern sein. Vor der schönen Theorie steht aber auch hier das Geld. Die Organisation und Koordination von Kandidaten wie Wahlkreisen müssen finanziert werden. Da ICANN eine Non-Profit-Organisation ist, sollen die Wähler einen Unkostenbeitrag zahlen. Von etwa 25 Dollar war bisher die Rede. Dies könnte nicht nur den Usern aus Entwicklungsländern den Zugang erschweren, sondern wäre auch den etwas wahlmüden Europäern schwer zu erklären. Deshalb wird überlegt, ob dieser Unkostenbeitrag nicht von Sponsoren übernommen wird. Zoä Baird ist dabei: Die Markle Foundation will mit einer Million Dollar den Versuch unterstützen „den normalen Bürger besser über Internetpolitik zu informieren“. Mindestens 200.000 Dollar gehen direkt an ICANN. Um eine europäische Wählerschaft zu organisieren, haben verschiedene europaweit operierende Organisationen ihre Unterstützung zugesagt, darunter auch die Europäische Kommission.
Aber auch das Gründungskomitee von ICANN unter seiner Vorsitzenden Esther Dyson ist tätig geworden. Im Oktober haben die drei schon bestehenden Unterorganisationen jeweils drei Repräsentanten in das 21 Mitglieder umfassende Direktorium entsandt, in dem bislang Amerikaner noch überproportional vertreten waren. Nur einer blieb übrig: Vinton G. Cerf, ein Netzpionier der ersten Tage. Schon haben Mitglieder des einflussreichen „House Commerce Committee“ in Washington Bedenken angemeldet. Sie haben Angst, dass eine „amerikanische Ressource einfach so weggegeben wird“, wie ein Sprecher sagte. „Das Internet ist in den USA entstanden. Die Mehrzahl der Internetnutzer sind Amerikaner, deshalb ist es wichtig für ICANN, als eine Internetpolitik gestaltende Organisation signifikante US-Repräsentation in ihrem Direktorium zu haben. Aber nur ein Amerikaner von neun hat es geschafft – das ist kein guter Anfang.“
Insgesamt haben die Mitgliedsorganisationen von ICANN vier Europäer, zwei Kanadier, einen US-Amerikaner, einen Lateinamerikaner und einen Asiaten in das neue Direktorium entsandt. Aber selbst gutwillige Beobachter zweifeln, ob diese Wahlen demokratisch genannt werden können. Denn die Unterorganisationen sind kaum mehr als Mailinglisten. Wer durch zahlreiche gut informierte Beiträge auffiel, wurde nominiert und dann via E-Mail gewählt. Demokratie nach dem Vorbild des Athener Marktplatzes: Der Lauteste gewinnt. Christian_Ahlert@harvard.edu
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