: Streike für den Herrn!
■ Büßen und Beten von und mit Ulrike Winkelmann
Heute schlägt die große Stunde der protestantischen Kirche. Menschenmengen werden mit langgezogenem Klagegeheul den Jungfernstieg entlangziehen, auf den Straßenkreuzungen werden PastorInnen zu den gläubigen Massen predigen, in den Fabriken werden die ArbeiterInnen die Maschinen im Stich lassen, um sich in Gottesdiensten zu ihrem Glauben zu bekennen.
Das Volk wird seinen Buß- und Bettag zurückfordern, und die Kirchenoberen werden in die Fußstapfen von Thomas Müntzer treten und dem Staat die Gefolgschaft aufkündigen. In einer historisch zu nennenden Entente cordiale mit den Gewerkschaften wird die evangelische Kirche den arbeitenden Menschen ihren Feiertag zurückgeben, den die weltlichen Herren ihnen gestohlen haben. Zur Finanzierung der Pflegeversicherung waren die Regierungsparteien im vergangenen Jahr mit den Arbeitgebern übereingekommen, daß die Mehrkosten durch die Streichung eines der letzten gesetzlichen arbeitsfreien Feiertage erwirtschaftet werden sollen.
Doch noch ist nicht aller Feiertage Abend: Laut Feiertagsgesetz ist ArbeiterInnen das Büßen und Beten zu gestatten, wenn „betriebliche Notwendigkeiten dem nicht entgegenstehen“; SchülerInnen erhalten mit Zustimmung der Eltern Befreiung vom Unterricht. Also ab in die Kirche! Die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (hbv) ruft zur Teilnahme am Gottesdienst um zehn Uhr in der Hauptkirche St. Petri in der Mönckebergstraße auf; es predigt Bischöfin Maria Jepsen. Am Lübecker Hauptbahnhof wird Bischof Karl Ludwig Kohlwage am Nachmittag eine feierliche Andacht abhalten. Alle Kirchen zwischen Elbstrand und dänischer Grenze, in Hamburg sogar auch die katholischen, werden um zwölf Uhr ihre Glocken in einem schauerlichen Wutgeläute ertönen lassen, und die Evangelische Jugend Hamburg wird um neun Uhr an der St. Georgskirche zu einer „Tempeltour“ durch die Innenstadt aufbrechen und Liturgien intonieren.
Der Kirchentag war nur das Vorspiel – was jetzt kommt, ist die synergetische Entfesselung der Macht von Proletariat und Christenheit. Erhard Pumm, Hamburger Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) stellt sich im Kampf gegen die Ausbeutung am Buß- und Bettag „an die Seite der Kirche“: „Sozialstaatlichkeit verstößt aus Prinzip gegen die Marktgesetze!“ An dieser Stelle dürfen natürlich auch weitere Widersprüche nicht verschwiegen werden: Denken verstößt aus Prinzip gegen die Arbeitsmoral! Arbeit verstößt aus Prinzip gegen die Menschenrechte! Menschsein verstößt aus Prinzip gegen die Staatlichkeit!
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