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Coole Seelenqual

■ Die Uraufführung der Kleist-Oper „Die Nacht des Cherub“ an der Neuköllner Oper

Weil ihm „auf Erden nicht zu helfen war“, erschoss Heinrich vom Kleist am 22. November 1811 am Ufer des Kleinen Wannsee erst seine Gefährtin Henriette Vogel und schließlich sich selbst. Die letzten Stunden vor diesem doppelten Freitod sind der Stoff, aus dem Rudolf Danker (Text und Regie) und Winfried Radeke (Musik) ihre Kammeroper „Die Nacht des Cherub“ gemacht haben. Kleist begegnet in einer Art fiebrigem Albtraum noch einmal Menschen aus seinem Leben – Freunden und Feinden. Goethe etwa, der seinen „Zerbrochenen Krug“ in Weimar verhunzte und den er dafür am liebsten zum Duell aufgefordert hätte. Oder dem Theaterprinzipalen Iffland, der sein „Käthchen von Heilbronn“ lieber dem Feuer übergeben als auf die Bühne bringen wollte.

Danker, der sein Libretto geschickt aus originalen Kleist-Zitaten collagiert hat, interessiert sich jedoch nicht für die lineare Werkbiografie und Lebensgeschichte von Kleist, sondern für dessen seelische Zerrissenheit. Als Literat ist er zu modern für seine Zeit, als Sohn einer Soldaten- und Adelsfamilie nicht gewillt, deren Forderungen nach Erhalt von Tradition und Ehre nachzukommen. Und in der Liebe ahnt er allenfalls, für wen sein Herz schlägt: für den verehrten Freund Ernst von Pfuel oder seine Halbschwester Ulrike?

Weil Kleist nicht von jener Welt war, ordnet ihm Winfried Radeke moderne, fast atonale Klänge zu. Während alle anderen Figuren auf dem historischen Clavichord begleitet werden – es gibt zeitgenössische Lieder der Kleist-Zeit, mit mal vaterländischen, mal todessehnsüchtigen Versen –, ist es bei Kleist selbst der Sound des Keybords und E-Pianos. Die Gegenspieler (u. a. Andreas Joscksch als Cherub, Linda Naumann als Ulrike von Kleist, Kerstin Schmitz als Wilhelmine von Zenge und der Instrumentalist Winfried Radeke als Goethe) wenden sich singend an Kleist.

Der wiederum, überzeugend gespielt von Eva Horstmann, spricht als einziger seinen Text. Auf der schrägen Rampe, die die kleine Studiobühne der Neuköllner Oper weitgehend einnimmt, verliert Kleist symbolisch mehr und mehr die Bodenhaftung. Das wirkt deutlich, ohne allzu lehrhaft zu sein oder in pures Germanistentheater abzustürzen (Regie: Rudolf Danker). Und bleibt alles auch ein wenig kalt. Ein bestürztes Schaudern, ein inneres Ergriffensein angesichts von Kleists Seelenqual will sich nicht wirklich einstellen. Axel Schock

Nächste Vorstellungen: Von 18. bis 21. November, 20 Uhr, Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 131 – 133

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