Die Verwirrung der Zöglinge

Die CDU ist in akuter Erklärungsnot. Wie distanziert man sich vom undurchsichtigen, gesetzbrecherischen Finanzgebaren der Kohls, Weyrauchs, Kieps, ohne als politisch erfolgreichste Partei der Nachkriegsgeschichte in Gänze im Spendensumpf zu versinken? Beim hilflosen Versuch, die fehlende Kontrolle der Partei über ihre Finanzmanager zu erläutern, bemühen Unionpolitiker seit Dezember vor allem zwei Erklärungsmuster: Die Partei habe wie eine Familie funktioniert – oder wie ein Männerbund. Einblicke in das System von Wegschauen und Hingucken und in die Rhetorik des Vatermords von Walter Erhart

Helmut Kohl schweigt. Und bringt seine Partei in Erklärungs-, ja Existenznot. In der hilflosen Rhetorik der plötzlich vaterlosen CDU-Politiker raunt es von Männerbünden und familialen Strukturen. Es sind quälende Entlastungsstrategien einer Partei beim Ausgang aus selbst verordneter Unmündigkeit

In David Finchers Film „Fight Club“ sind die Zwanzigjährigen auf der Suche nach verlorener Männlichkeit und erfinden sich zu diesem Zweck archaische Rituale. Sie gründen einen Männerbund, mit einem eigenen Kodex, einem Schweigegebot und einer Männertreue, die dem charismatischen Anführer unbedingt ergeben ist – notfalls bis zur Selbstaufgabe. Ebenso archaisch muten die Diagnosen und Schlagworte der gegenwärtigen deutschen Politik an: Ehrenwort, Mafia, Padrone und Patriarch, Nibelungentreue, Gefolgschaft, „existenzielle Bewährungsprobe“, Vatermord. Die Devise in beiden Fällen ist deutlich: keine Fragen, keine Namen und ein gemeinsames politisches Ziel.

Die aktuellen Selbstbeschreibungen der deutschen Politik sind durchtränkt mit symbolischen Zeichen, die in geradezu auffallender Weise auf zwei ganz unterschiedliche soziale Ordnungsmächte zielen: auf Familie und Männerbund. Da muss sich die Partei „wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen“ (Angela Merkel im Dezember), oder aber man „steht“ noch zum Ehrenvorsitzenden, weil man „sich schließlich auch nicht von seinen Eltern lossagen“ kann (Jürgen Rüttgers im Januar). Kurt Biedenkopf bescheinigt dem Altkanzler die Mentalität eines „Altbauern“, der sich nicht aufs „Altenteil“ zurückzieht, die Vorsitzende der Jungen Union, Hildegard Müller, bemüht gar ein psychohistorisches Erklärungsmodell: „Sie verleugnen auch nicht ihren Vater, wenn er gegen das Recht gehandelt hat.“ Partei und Politik inszenieren sich überdeutlich im Zeichen der „Familie“. „Patriarchalisches System“ (Wolfgang Schäuble) hier, „innere Verwobenheit“ (Müller) dort.

Auf der anderen Seite aber stehen markige oder traurige Worte von Männerfreundschaften, künden Ehre, Treue und Gefolgschaft von einem anderen symbolischen System: dem machtgeschützten Zirkel um Kohl, dem Wesen der Patronage, den Geheimabsprachen, den mafiosen Strukturen, dem Männerbundsyndrom. Dort herrschen andere Gesetze. Heinz Daum, Kreisgeschäftsführer der Frankfurter CDU, erklärt, dass „Nachfragen“ nicht die „Sache“ der Chargen war: Wenn der Prinz von Wittgenstein „verkündete“, es gebe ein Vermächtnis, „dann nahm man das dankbar hin“. Folgerichtig raunt der hessische Ministerpräsident von einer „geheimbündlichen Organisation“ – die selbstredend nur vor ihm und ohne ihn funkionierte: „Es gab offenbar offizielle und inoffizielle Dinge“ (Hildegard Müller). Keine Fragen. Keine Namen.

Karl Schurtz und Hans Blüher haben zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts den Begriff „Männerbund“ geprägt – und ihn zugleich scharf vom Phänomen der „Familie“ abgegrenzt. Gestützt auf ethnografische Befunde, entdeckten sie die Männerbünde als Resultat eines rein männlichen „Geselligkeitstriebes“, der jenseits der familialen Bindungen seine Erfüllung findet, zumeist in den Phasen der Jungmannschaft, in den Institutionen der „Männerhäuser“.

So sehr diese Theorien ebenso kruden wie elitären Phantasmen über die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft (so der Buchtitel von Hans Blüher 1917) verpflichtet sind, so begleiten sie doch die Konjunktur und die Anziehungskraft zahlreicher männerbündischer Aktivitäten im frühen zwanzigsten Jahrhundert. Geprägt sind solche Vereinigungen durch streng hierarchische Strukturen, zumeist in Form eines charismatischen Führers und seiner Gefolgsleute, des weiteren durch ein wie immer geartetes Geheimwissen sowie durch Initiationsriten. Eine bestimmte Struktur der Vergesellschaftung, die sich auch auf Vertreter der „höheren sozialen Verbände“ (Schurtz) und auf „Gefolgschaften“ im Parteienwesen (so der Soziologe Max Weber) erstreckt. Mit allen Begleiterscheinungen, wie sie die „Veralltäglichung des Charismas“ mit sich bringt: „Führer“, „Novizen“, „Vertrauensmänner“, Männerfreunde oder Vasallen wie Berti Vogts. Auch „Parteimäzenaten“. Letztere bleiben übrigens schon bei Max Weber („Wirtschaft und Gesellschaft“) „regelmäßig (nicht immer) verborgen“. Dreh- und Angelpunkt des Männerbündischen ist die männliche Gemeinschaft, die gänzlich andere affektive Bindungen und soziale Formen ausbildet als die von den Frauen geprägte (oder zumindest eng auf sie bezogene) Ehe und Familie. Was aber passiert, wenn eine Partei sich plötzlich als Männerbund oder als Familie begreift? Je nachdem – denn „Familie“ ist ein durchaus ambivalenter Begriff. Der „Patriarch“ im System Kohl und auch der Biedenkopfsche „Altbauer“ repräsentieren deren vormoderne Form, das „ganze Haus“, den alteuropäischen oikos. Solche Familienformen gelten freilich seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert als archaisch.

Wenn heute in der CDU-Politik von der „Verwobenheit“ mit den Eltern die Rede ist, wenn Blüm das Desaster der postfamilialen Ära mit „depressiven Anwandlungen“ beschreibt und die jungen Wilden mit Tränen in den Augen sich von zu Hause lösen, dann ist hier eine andere Familie gemeint: die moderne, affektiv besetzte Kleinfamilie. Sie beherrscht jene Vorstellungswelt, die Kohl einst den Ehrentitel „Vater der Einheit“ eingebracht hat: die Versöhnung von Brüdern und Schwestern, Fürsorge, soziale Nähe. Zumeist wird „Familie“ als das Gegenteil von Gesellschaft gehandelt: als ein privater Schutzraum und eine nicht öffentliche Sicherheitszone, mit eigenen Regeln, in Abwesenheit sozialer und gesellschaftlicher Direktiven. Im Gegensatz dazu aber funktioniert das „Sozialsystem Familie“ sehr wohl nach einem gesellschaftlichen Code. Man könnte sogar sagen: „Die Familie übertreibt Gesellschaft“ (Niklas Luhmann). Nur in der Familie gilt nämlich noch ein Vergesellschaftungsprinzip, das nicht durch funktionale Differenz, sondern durch totale personale Inklusion ihrer Mitglieder organisiert ist. Daraus löst man sich nicht „ohne Wunden“ und „ohne Verletzungen“ – wie Merkel es so familiär für ihre Partei formuliert. Denn in Familien (wie in Männerbünden) weiß man viel voneinander. Mitglieder definieren sich als Insider, delektieren sich an personaler Nähe, messen alles an „persönlichem Vertrauen“ (Kohl) und befleißigen sich „übertriebener“ Kommunikation. Geheimhaltung passt nicht dazu.

Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von „Personorientierung“ und „Kommunikationsverdichtung“. Man kennt und sieht sich – und schaut trotzdem gelegentlich weg. Aufeinander ist Verlass; nur so kann eine allein nach innen relevante Kommunikation nach außen hin abgeschottet werden. Familienmitglieder und Bundesbrüder haben deshalb gemeinsam, dass sie des öfteren „nicht nachgefragt“ und „auch nicht geguckt haben“ (Schäuble), denn das soziale System ist auf solche, durchaus hierarchische Vertrautheit gegründet. „Es wird schon richtig sein“, glaubte Schäuble, und „vielleicht haben wir auch alle miteinander die Kontrollen nicht so ernst genommen.“ Kanther hat immer nur „in Grundzügen“, Daum „gar nichts“ davon gewusst.

Wozu auch, wenn in Familien und ähnlichen Sozialverbänden alle davon „leben, dass wir Menschen um uns herum haben, denen wir vertrauen können“, und das gilt „von der Erbsünde abwärts“ (Roland Koch). Die familiäre oder männerbündische „Legitimation durch Vertrauen“ freilich steht einem demokratisch einzig legitimen „Verfahren“ entgegen. Das Unwissen und das Schweigen bilden mithin die Kehrseite einer dichten, personenbezogenen und auf Interna ausgerichteten Kommunikation in Familien, Männerbünden und Parteien.

Und doch gibt es Unterschiede, die zugleich die verschiedenen Funktionen der familialen und männerbündischen Rhetorik festlegen. Familien partizipieren am Mythos der „naturwüchsigen Formen“, in denen man seinen Platz nicht verändern, nur verlassen kann. Der Männerbund hingegen, wusste schon Hans Blüher, ist „ein ungleich beweglicheres Gebilde“, ein Nährboden für männliche Karrieren, ein Gefüge aus mehreren „Kreisen“, durch die sich die Jungmänner laufbahnartig nach vorne bewegen – oder auch zurück. Fälle aus der Kohl-Ära sind bekannt.

Familien wachsen und lösen sich organisch auf, Männer schließen sich ständig einander an – zum Zweck und mit dem „Gefühl der Willenssteigerung“ (Blüher). Für ihre eigene Überlebensfähigkeit brauchen männerbündische Strukturen deshalb geordnete Umgangsformen, Verschwiegenheit, Ehre, Treue, eine „aus Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene gläubige, ganz persönliche Hingabe“ (Max Weber), aber auch ein „bestimmtes heimliches Maßhalten zwischen Verschwiegenheit und Propaganda“. Blüher spricht von einem „Zwischenraum“, der Distanz erfordert und vor den familialen Fallstricken „weiblicher“ Nähe und Abhängigkeit bewahrt.

Eine Partei säubert sich. Dabei kann schon einmal der Überblick verloren gehen, wovon die Rede ist: von Familien oder von Männerbünden. Vor allem, wenn es schnell geht. Nach Kohls Beichte im Dezember soll ein Präsidiumsmitglied spontan geäußert haben, seine „Achtung“ vor Kohl sei „mit jedem Satz gestiegen“. Noch Anfang Januar wies Christian Wulff die Aberkennung des Kohlschen Ehrenvorsitzes weit von sich und erinnerte an die Dankesschuld für den Vater der Einheit. Wenig später war Kohl die Unperson schlechthin, und sogar Wulff fand die CDU-Vorgänge öffentlich nur noch „zum Kotzen“ – ein plötzlich wieder ganz junger Wilder, um Hygiene bemüht.

Eine Familie zerfällt. Was folgt? Nach dem Tod des „Ziehvaters“ ist plötzlich alles anders. Schäuble fühlt sich nach der entscheidenden Sitzung „zum ersten Mal wie in einer Gemeinschaft“. Die „Krise gemeinsam bewältigen“ (Wulff) ist das Gebot der Stunde, „Zusammenhalten“ (Hildegard Müller) die Parole. Aber viel von „Familie“ zu reden, bedeutet, sich als „Kind“ zu rekonstruieren. Als Kind ist man in der Familie unfrei und muss ebenso „wegschauen“ wie gute Miene zum bösen Spiel machen. Jeder kann sich nachträglich für unmündig erklären – und verschweigen, wie viel „gesehen“ oder „geahnt“ wurde, wie neugierig man darauf war, geheime Familienangelegenheiten in Erfahrung zu bringen. Und das Wissen zu nutzen.

Der Männerbund erzwingt die Initiation schon sehr viel früher – und setzt voraus, dass man als Mitglied „eingeweiht“ und an den Ritualen beteiligt war, dass man dies sogar ausdrücklich wollte: „mittun“ und dabei seinen eigenen „Willen“ steigern. Dazu gehört burschenschaftliche Geselligkeit: Trinksitten und spendable Tischherren, männliche Nährkraft und bürgerliche Feistigkeit. Die „Jungen“ waren nicht nur integriert, sondern mit „Hingabe“ dabei, und das bleibt so, auch wenn sich der Männerbund nach dem Sturz des großen Vorsitzenden neu konstitutiert.

Das rhetorische Ineinander von Männerbund und Familie kann also strategisch der Entlastung dienen: Man war ein junger Männerbündler und interpretiert sich als unmündigen Sohn. „Gestreckte Pubertät“ nennt dies die Männerbundtheorie. Verwirrung ist demnach vorprogrammiert bei den plötzlich erwachsenen Ziehsöhnen, Kindern und Novizen, die doch alle schon Präsidenten, Minister oder Geschäftsführer gewesen sind. Sie werden nun „frei“ und hatten doch immer schon teil; sie können sich heimatlos zusammentun und zugleich schon wieder bündische „Kreise“ ziehen.

Vielleicht sind sie auch entfernt verwandt mit dem Helden in Robert Musils Erzählung über die „Verwirrungen des Zöglings Törless“, wo die Söhne der „besten Familien des Landes“ bei ihrer Ausbildung und Selbstfindung geschildert werden. Törless ahnt und beobachtet ziemlich viel Unerlaubtes, schaut weg und dann doch wieder genau hin, weist entrüstet jegliches „Mittun“ von sich und flieht eines Nachts schuldbewusst aus der Kaderschmiede des Konvikts.

Ähnlich reagieren heute die jungen Wilden, mit dem Impuls zum Verschweigen und dem anschließend redseligen Bekenntnis zur „brutalstmöglichen Aufklärung“ (Koch). Aus ihren Mienen spricht mal der frei gewordene Sohn, mal der ängstlich mitwissende Bundesbruder – und bald der zu neuer Führungskraft sich streckende Nachfolger des einst so bewunderten und so reichlich Macht spendenden Vaters. Angela Merkel hingegen scheint es verhältnismäßig leicht zu gelingen, der Verwirrungen Herrin zu werden. Das einstige „Mädchen“, noch dazu aus dem unterlegenen Osten, war nicht Teil des Bundes, sondern als Ziehtochter ganz in die Familie „verwoben“. Deshalb kann sie heute reagieren wie der einzig souveräne Sohn: sich „fließend weiterentwickeln“ zur Selbstständigkeit, sich freimachen durch Emanzipation.

Walter Erhart, geboren 1959, ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität in Greifswald. Mit Britta Hermann gab er heraus: „Wann ist ein Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit“, Metzler, Stuttgart, Weimar 1997, 392 Seiten, 48 Mark