: Schleichende Verwandlungen
Die Retrospektive der Berlinale zeigt, wie der Film zu künstlichen Menschen, Maschinen und Körpern kam ■ Von Friedrich Kittler
Seit langem schon sonnt sich der Film, weil er nach der Seite seiner höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes ist, im Abendlicht der Retrospektiven und Filmwissenschaften. Aber der verflossene Zauber aus Tingeltangel und Schießbude, Straßenstrich und Stummfilmzelt wirkt offenbar noch nach hundert Jahren. Die Berlinale 2000 jedenfalls, um ihre Retrospektive zu bewerben, lässt alle begriffliche Ehrbarkeit fahren und lockt letzte Cinéasten mit einem Thema, das purer Stabreimunsinn ist: Künstliche Menschen, manische Maschinen, kontrollierte Körper.
Die Gelegenheit, nach 105 Jahren Kino endlich einmal zu klären, womit Filme zu tun haben – mit Menschen oder aber mit Maschinen oder aber mit Körpern –, war viel zu schön, um nicht verpasst zu werden. Nur ist auch keine Antwort eine Antwort. Gender- und Film-Studies, Dekonstruktionisten und Feministen, alle dürfen sie weitermachen. Eben während ein Analogmedium nach dem anderen, als wären sie einstürzende Neubauten, im weltweiten Computernetz aufgeht und untertaucht, setzt nun die Berlinale auf ein letztes kunterbuntes Variété. Außer Zuschauen, so leid es mir tut, bleibt nichts übrig. Sehen wir also zu.
1. Künstliche Menschen
Im guten alten Stummfilm, anders gesagt, vor dem Ersten Weltkrieg, waren künstliche Menschen das Einfachste von der Welt. Der Kameramann brauchte nur seine manuelle Kurbel zu betätigen, schon hatte er sie im Kasten.
Wahre, also nicht bloß künstliche Menschen durften nämlich gar nicht in technischen Medien hausen. Sie gab es nur in jenen Künsten, denen der Stummfilm nachgerade die Kunden stahl: in Theaterstücken und Romanen. Den Beweis ihrer Menschlichkeit erbrachten Schauspieler und Romanfiguren ganz einfach: Sie sagten, was die Rolle vorschrieb oder der Autor dachte.
Das Filmdrehbuch dagegen, diese neue schreibmaschinelle Textsorte, konnte zwar alle möglichen Sprüche vorschreiben, aber niemandem in den Mund legen. Zur Sprache fand der Stummfilm nur in seinen Zwischentiteln, während die Schauspieler, wenn sie von der Bühne zum Kino überliefen, gerade umgekehrt zu einer Stummheit fanden, die ihnen jede Menschenähnlichkeit austrieb. Gefeierte deutsche Bühnenstars wie Wegener oder Bassermann brauchten nur (mit H.H. Ewers) als „Student von Prag“ oder (mit Paul Lindau) als „Der Andere“ ins Massenmedium Stummfilm abzuwandern, um alles bürgerlich Gebildete abzustreifen. Was ihnen aus der Tiefe des Spiegels entgegentrat, war ein Wegener bzw. Bassermann ohne jede Seele, mit anderen Worten: ein dummer sprachloser Körper, unbeholfen, plump und mechanisch, aber gerade darum zu jedem Verbrechen gut.
Die Spiegel oder Träume, aus denen den frühesten Stummfilmhelden die eigenen Doppelgänger entgegentraten, verfilmten also nicht mehr und nicht weniger als die Verfilmung selbst. Sie führten vor, was Leuten widerfährt, die statt künstlerischer Werke nur mehr medientechnische Spuren hinterlassen. Die Serienfotografie mit fotografischen Flinten und anderen zumindest metaphorischen Mordwaffen war ja im ganzen Gegensatz zur Porträtmalerei entwickelt worden, um Augentäuschungen systematisch zu durchkreuzen. Was das Zelluloid zeigte, bevor Edison und die Brüder Lumière wissenschaftliche Experimentalanordnungen zur Geldquelle umfunktioniert hatten, waren galoppierende Pferdebeine, große hysterische Anfälle, schallmauerbrechende Geschosse – Zuckungen im Realen also ohne jede Semantik. Mit dem frühen deutschen Autorenfilm griffen solche Experimentalordnungen auf den Menschen als solchen über.
Lindaus Titelheld war Staatsanwalt im Vollbesitz juristischer Argumente und philosophischer Überzeugungen. 1913, also während Psychiatrie und Psychoanalyse schon längst auf die Unzurechnungsfähigkeit wahnsinniger Verbrecher erkannten, diktierte Dr. Hallers seinem Sekretär noch immer das ganze Gegenteil. Aber wie zum Zeichen, dass das Zeitalter der Sekretäre eben zu Ende ging, um klavierspielenden und mithin auch maschineschreibenden Frauen Platz zu machen, setzte ein unsichtbares Piano ein und versenkte den übermüdeten Staatsanwalt in Dämmerzustände, aus denen er erst als Anderer seiner selbst erwachte. Ganz ohne Spiegel und Magie, aber bei laufender Kamera wurde ein Staatsanwalt zum Verbrecher, ein Geist zum Körper, ein Großbürger zum Proleten, bis die Unzurechnungsfähigkeit als juridisch-psychiatrische Kategorie ebenso drastisch wie filmisch bewiesen war. Am Ende hielt Dr. Hallers um die Hand der Klavierspielerin an, widerrief seinem Psychiater gegenüber alle Wahnideen einer preußisch-absoluten Zurechnungsfähigkeit und fügte sich der Evidenz technischer Medien, die ihn als Einbrecher und Ganoven überführt hatten.
Aus solchen schleichenden Verwandlungen, wie ja auch Kafkas Käfer sie durchmachte, wurden nach dem Ersten Weltkrieg planvolle Konstruktionen. Wegeners dritter Golem-Film und Wienes „Kabinett des Dr. Caligari“ setzten Wesen in Szene, deren ganze Künstlichkeit in ihrer Fernsteuerung bestand. Anstelle des Schocks, von Stummfilmkameras auf stumme Körper reduziert zu werden, trat die Strategie, stumme Körper den Geheimzeichen einer Kabbala oder Hypnose zu unterwerfen, bis diese Körper unverwundbar wie Automaten und tödlich wie Fernlenkwaffen geworden waren. Wenn im Prager Hradschin die Balken von der Decke stürzten und einen ganzen Kaiserhof zu begraben drohten, stemmte der Golem mit seinen zwei nackten Händen und jenem Kopfhaar, das viel eher ein Stahlhelm war, die ganze Welt des Films. Und das war keine Errettung der physischen Wirklichkeit, wie Kracauer wohl gescherzt hätte, sondern sein schlichter soldatischer Auftrag. Wegener, dem als freiwilligen Landwehrhauptmann die einstürzenden Schützengräben im flandrischen Schlamm 1914 nur allzu nahe gekommen waren, setzte dem neuen militärischen Typ namens Sturmtruppführer einfach sein filmisches Denkmal. Schließlich war von allen Waffengattungen geschlagener kaiserlicher Armeen einzig den Sturmtrupps noch eine große revolutionäre Zukunft beschieden ...
Schon deshalb gingen die künstlichen Filmmenschen nach 1918 nicht in Puppenromantik auf. Ernst Lubitsch machte sich, wie üblich, die Komödie zu leicht, als er 1919 den armen alten Adel verspottete, er könne dringend benötigtes bräutliches Frischfleisch gar nicht von handwerklich sauberen Frauenpuppen unterscheiden. Erstens machte eine Puppe, deren Fresssucht dann und immer nur dann alle Tischsitten verletzt, wenn ihr adliger Bräutigam gerade den Blick abwendet, nicht gerade Demokratiereklame; zweitens blieben künstliche Menschen, wenn der Stummfilm sie vorführte, aller erträumten Gesellschaftskritik zum Trotz zuerst und zunächst Metaphern des Stummfilms selber.
2. Manische Maschinen
Das änderte sich erst, als die Zwischenkriegszeit ihre künstlichen Wesen armierte und elektrifizierte, also von Menschen auf Maschinen, von Sturmtruppsoldaten auf Panzer umstellte. Der beste Film, den die Retrospektive der Berlinale wieder zu sehen gibt, ist ein in Bologna aus brasilianischen Kopien rekonstruiertes Fragment von 1921.
André Deeds „L'uomo meccanico“ wirft alle Doppelgängerromantik, wie sie Schauspielerkörper und Zelluloidbild gegeneinander ausspielte, über Bord: Sein mechanischer Mann ist eine technisch durchkonstruierte Maschine und damit immer auch schon reproduzierbar. Man (und das heißt vorab frau) bedient die Maschine von einem elektrischen Schaltpult aus, das den Automaten nicht nur funktechnisch fernsteuert, sondern seine Bewegungen auch fernsehtechnisch rückmeldet. Dieser Medienverbund, der ja seit 1935 zur Zukunft des Films selber werden sollte, ist machtvoll genug, Pistolenkugeln abzuschütteln, Panzerschränke zu knacken, Autos mit hundert Stundenkilometern über staubige Straßen zu verfolgen und schließlich eine unzensierte Zehntelsekunde lang die Brustwarzen der gräflichen Diva freizulegen.
So schön und anarchisch tobt (fast wie in Fiume) der Ausnahmezustand, dass dem mechanischen Kampfroboter nur seinesgleichen beikommen kann. In Schnitt und Gegenschnitt sieht man, wie die zwei metallischen Ungeheuer zur prophetischen Panzerschlacht aufeinanderstoßen, während gleichzeitig ein futuristischer Ingenieur und eine maskierte Schönheit die zwei feindlichen Fernsteuerkonsolen bedienen. Das Böse in Gestalt einer Banditin, vor der Gefängnisschlösser und Detektivtechniken schon alle versagt haben, steht kurz vor dem Sieg. Aber in letzter Minute dringt ein Saboteur in ihre Fernsteuerzentrale ein, löst einen Starkstrom-Kurzschluss aus und macht es der ahnungslosen Polizei doch noch möglich, die Maske vom Antlitz der Toten zu nehmen: Russische Gräfin und italienische Banditin, Macht und Gegengewalt sind eins gewesen.
Offenbar ahnte schon das Europa der Zwischenkriegszeit, was Heiner Müller dann den Weg der Panzer nennen sollte. 1927 jedenfalls drehte Raymond Bernard den wohl spektakulärsten Stummfilm, der je über Vergangenheit und Zukunft der Menschmaschine handelte. In einer dunklen Erleuchtung verknüpfte Bernards „Schachspieler“ die Geschichte der zweiten polnischen Teilung von 1793 mit der spätestens seit Edgar Allan Poe berühmten Geschichte, wie Baron von Kempelen als österreichischer Hofmechanikus seinen unschlagbaren Schachautomaten konstruierte. Denn einzig im Schachspiel siegt der junge polnische Adel über seine russischen Unterdrücker, während die militärische Erhebung einer großartigen Ulanen-Attacke zum Trotz nur in Niederlage und härtere Unterdrückung führt. In dieser Bedrängnis retten Bernard und Kempelen, nicht viel anders als General Weygand 1920, die polnische Freiheit. Kempelens Schachtürke täuscht maschinelle Automatik nur vor, in Tat und Wahrheit versteckt er einen polnischen Freiheitshelden und Schachspieler vor zaristischer Verfolgung.
Das geht solange gut, wie die zaristische Verfolgung nicht Zarin Katharina selber heißt. Mit ihrem Befehl, den Schachautomaten im Schlosshof von St. Petersburg standrechtlich zu erschießen, würde die orientalische Despotie am Ende doch noch triumphieren. Aber Baron von Kempelen – der Ingenieur als Selbstopfer an die Zukunft – hat heimlich den Platz seines polnischen Schützlings eingenommen und verblutet zur selben Stunde, in der sein finsterer russischer Widersacher von einem ganzen Regiment Kempelenscher Fechter oder Roboter rettungslos umzingelt wird. Wie man weiß, waren auch 1939 gepanzerte Einheiten schneller und effektiver als die schönsten und filmischsten Ulanen-Attacken.
3. Kontrollierte Körper
Die Filmkamera, sofern sie nicht in ergonomische, psychiatrische oder militärische Rückkopplungsschleifen geriet, hat Körper niemals kontrolliert. Deshalb konnte Wegeners Golem seinem Rabbi davonlaufen, Wienes Cesare seinem wahnsinnigen Dr. Caligari. Die Möglichkeit der Kontrolle begann vielmehr, wie André so einmalig klar erkannte, mit Radio- oder Röhrentechnik.
Als drei ehemalige deutsche Heeresfunker 1919 darangingen, optische und akustische, filmische und fonografische Aufnahmetechniken zu einem vollelektronischen Gesamttechnikwerk zu kombinieren, endete mit dem Stummfilm auch die sprachlose Freiheit der Körper. Die Lichttonspur unterwarf Filmgebärden und Filmschnitte dem analogen, also kaum schneidbaren Fluss irgendwelcher Nationalsprachen. Und anstelle des Handwerks traten Großindustrien.
Tonfilme setzen die Elektrizität voraus, brauchen sie aber eben darum nicht zu zeigen. Der Strom ist nur dazu gut, Wesen zu einer Stimme zu verhelfen, die diese Wesen als Menschen ausweist, von Unmenschen, Unwesen oder anderen transsylvanischen Fremdheiten also unterscheidet. Auch der großartige Maschinenpark, den Dr. Frankenstein 1931 im ersten gleichnamigen Tonfilm konstruierte, zählte für die Handlung nicht weiter. Er diente nur dem Zweck, ein Konglomerat von Galgenleichenteilen unter Hochspannung und damit ins zweite Leben zu setzen. Solche finsteren Vererbungstheorien, wie Roman und Film sie seit Hans-Heinz Ewers' „Alraune“ propagierten, konnten aber gar nicht umhin, Körperkontrolle als Problem zu denken. Jedes Ungeheuer, das der Sprache und d.h. dem Tonfilm gehorcht, ist schon keines mehr. Wenn Frankensteins Sohn, der 1938 hinter der Elektrizität seines toten gescheiterten Vaters bereits die kosmischen Strahlen von 1945 vermutet, das brüllende Monstrum von Halbbruder am Ende einfach verlässt, um mit den teuren Stimmen von Frau und Sohn wieder eins zu werden, feiert die Menschwerdung der Wissenschaft ihren tröstlichsten, aber auch verlogensten Triumph.
4. Digitaler Showdown
Denn zwei Jahre zuvor, 1936, hat Alan Turing bewiesen, daß es Maschinen gibt, die nur mit der Beschreibung und d.h. Sprache einer anderen Maschine gefüttert zu werden brauchen, um alle anderen Maschinen imitieren zu können. Der Test, ob solche Maschinen sich von Menschen, die ebenfalls dem Befehlsfluss einer Sprache folgen, prinzipiell unterscheiden lassen, ist mithin ebenso wünschenswert wie unmöglich.
Ich habe „Blade Runner“ nie im Kino gesehen, dafür aber letzte Woche als Director's Cut und Video on demand. Im Vorspann, der schon die wahre Maschine sein dürfte, teilt das Federal Communications Committee zunächst die statistische Verteilung von Sex und Crime über 130 Minuten mit. Dann erscheint Los Angeles, als hätte Pynchons Oedipa Maass die Kamera geführt: eine statistische Verteilung von Leiterbahnen, Schaltkreisen und Verkehrssystemen. (Als Tochterfirma von AOL hat Warner Home Video ja nur mehr virtuelle Existenz.)
Dass „Blade Runner“ den Turing-Test verfilmt, braucht keinen Beweis. Intelligenzen, die einander Unmenschlichkeit unterstellen, erweisen sich dadurch noch lange nicht als Menschen. Und wenn (nach der These der harten KI) auch Gefühle programmierbar sind, fallen Sex und Crime als Unterscheidungskriterien dahin. Was bleibt, sind Filme, die aus den pornografischsten Gründen immer noch Menschenfleisch zeigen, auch und gerade wenn seine Polygonzüge und RGB-Werte computergrafisch errechnet sind. Den Abschied vom Kino wagen weder Industrie noch Berlinale.
„Künstliche Menschen, Manische Maschinen, Kontrollierte Körper“ findet im CinemaXX (Kino 6 und 9) statt. Termine unter www.berlinale.de
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