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Quo vadis, Moritz?

Festivals sind Systeme, die sich immer wieder selbst reproduzieren, aber Spaß machen sie trotzdem. Zwischen Umzug und Umbruch beginnen heute die 50. Internationalen Filmfestspiele von Berlin ■ Von Katja Nicodemus

Die Berlinale ist eine Bildermaschine zum Querlesen, vom kasachischen Kurzfilm zu Oliver Stone

Ein Filmfestival ist ein geschlossenes System, nach Niklas Luhmanns Systemtheorie möglicherweise sogar ein autopoietisches, denn alle seine Prozesse sind auf Selbsterzeugung und Selbsterhaltung ausgerichtet – auch wenn sich Umwelteinflüsse (zum Beispiel die Presse) manchmal störend auswirken und Ausgleichsreaktionen erfordern können. So bekommt zum Beispiel ein kasachischer Kurzfilm im Internationalen Forum des jungen Films Bedeutung, weil er im Internationalen Forum des Jungen Films zu sehen ist. Genauso wie der Wettbewerb bedeutsam ist, wenn Leonardo DiCaprio, George Clooney und Gwyneth Paltrow kommen. Und Leonardo, George und Gwyneth kommen, weil ihr Film im Wettbewerb läuft. Man könnte durchaus die These aufstellen, dass die Presse mit zum autopoietischen System Berlinale gehört, ob sie nun nörgelt oder jubelt. Denn die Berlinale ist auch deshalb wichtig, weil alle Zeitungen jeden Tag mehrere Seiten darüber bringen, wobei die wiederum wichtig sind, weil es die Berlinale-Seiten sind.

Die Berliner Filmfestspiele als sich selbst erzeugendes System bringen viele solcher so genannter seltsamer Schleifen mit sich, die stets wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückführen, und man sollte ihnen auch nicht zu genau auf den Grund gehen, weil einem sonst schwindlig wird bzw. man keine Lust mehr hat, sich Filme anzuschauen. Dass sie die eigentliche Substanz der Veranstaltung sind, wird nämlich manchmal fast vergessen. Es ist eine Tatsache, dass sich die Publikumsresonanz (selbstreferenziell-geschlossene Systeme können nach Luhmann durchaus umweltoffen sein) der Berlinale in den letzten Jahren umgekehrt proportional zu den Reaktionen der Presse verhalten hat. Die Berliner Filmfestspiele scheinen eine einzige Belastung für die Filmjournalisten, die armen, wobei es fast so etwas wie ein Sport ist, sich selbstquälerisch das anzusehen, was man nicht mag. Und wenn dann noch Gwyneth absagt! Aber selbst für jemanden, der in diesem Jahr alle 29 Wettbewerbsfilme (davon 21 in der Konkurrenz um den Bären) bescheuert finden sollte, blieben immer noch so um die 250 Alternativen in Forum, Panorama, Retrospektive, zwei Hommagen und dem Kinderfilmfest.

Eigentlich macht es doch Spaß, bei einer Bildermaschine wie der Berlinale querlesen zu können, nach dem kasachischen Kurzfilm in den neuen Oliver Stone zu hüpfen, dann in den neuen Lothar Lambert und sich dann noch anzuschauen, wie Jeanne Moreau als Joseph Loseys „Eva“ das Geld ihres Liebhabers zum Roulettetisch schleppt und ihm dafür noch ein „Du bist kein Mann, Du bist ein Verlierer“ vor den Latz haut ( jede Wette, dass es in 300 Filmen niemanden gibt, der so cool wie sie die Fluppe im äußersten Winkel des Mundwinkels hängen lässt).

Im Fall von Berlin hat sich das autopoietische System Festival in drei Untersysteme ausdifferenziert, das System de Hadeln, das System Gregor und das System Panorama. Wobei es, was den Aufbau und die Erhaltung der eigenen Struktur betrifft, gewisse Parallelen zwischen dem personalisierten System des Wettbewerbschefs de Hadeln und dem System Kohl gibt. Auch phänomenologisch: Beide haben eine komische Aussprache, beide neigen dazu, allen Anfechtungen mit dickhäutigem Stoizismus zu begegnen, beide fand man lange Zeit schrecklich, bis man sich der puren physischen Präsenz, das heißt der argumentlosen Überzeugungskraft ihrer massigen Körper, irgendwann ergeben hat. Beide führten bzw. führen ihr jeweiliges Festival autokratisch und reagieren lieber passiv auf die Verhältnisse, als dass sie visionär voranpreschen. Konkret wäre zum System de Hadeln in diesem Jahr zu sagen, dass mit Wim Wenders, Volker Schlöndorff und Rudolf Thome zwar erprobte deutsche Autorenfilmer dabei sind (wobei Wenders und Schlöndorff schon in jedem Wettbewerb der Welt liefen und man Thome dieses erste Mal richtig gönnt), gleichzeitig aber verpasst wurde, mit Romuald Karmakars „Manila“ und Oskar Roehlers „Die Unberührbare“ endlich auch einer Regisseursgeneration ihre Chance zu geben, die ja weiß Gott nicht mehr zum Underground gehört. So wie ansonsten neben den Veteranen zum Angeben (Miloš Forman, Oliver Stone, Claude Miller etc.) ja auch Paul Thomas Anderson bzw. jüngere franzssische Regisseure wie Laëtitia Masson oder François Ozon im Wettbewerb vertreten sind. In der Hollywood-Auswahl zeigt de Hadeln sein bewährtes Händchen für den Publikumserfolg oder anders gesagt: Die Majors nutzen die Berlinale als Startrampe für die neue Kinosaison: Anthony Minghellas Highsmith-Verfilmung „Der talentierte Mr. Ripley“ mit Damon & Paltrow (ab 24. 2. im Kino) , David O. Russells Golfkriegsgroteske „Three Kings“ mit Clooney & Ice Cube (10. 2.), Norman Jewisons „The Hurricane“ mit Denzel Washington (2. 3.).

Traditionell schwachbrüstig ist der Wettbewerb mal wieder bei den amerikanischen Autorenfilmern, die in Cannes immer ihren großen Auftritt haben (vielleicht auch, weil sie oft von französischen Firmen koproduziert sind), aber immerhin hat sich de Hadeln „American Psycho“, Mary Harrons lang erwartete Verfilmung von Brat Easton Ellis’ Psychopathenklopper, geangelt, die in Sundance schon heftige Reaktionen hervorgerufen hat. Leonardo DiCaprio war die Rolle des Maniac zu heiß, dafür darf er jetzt in einer anderen Kultbuchverwertung, Danny Boyles „The Beach“, Haien den Bauch aufschlitzen. Aber wahrscheinlich wird „Magnolia“, Paul Thomas-Andersons Gesellschaftspanorama über die unglaublichen Kontingenzen des Großstadtlebens, den Goldenen Bären gewinnen, allein schon, weil er mit seiner Anfangssequenz eine unschlagbare Kadaverbilanz zieht: drei Männer, die erhängt werden, ein Taucher, der vom Himmel fällt, und ein Selbstmörder, der während seines Sprungs noch erschossen wird.

Zum sich immer wieder selbst erzeugenden System Berlinale: Nachdem Gong Li hier 1989 in Zhang Yimous Film „Rotes Kornfeld“ zu sehen war, mit dem der Siegeszug der so genannten fünften Generation chinesischer Filmemacher begann, ist es natürlich kein Zufall, dass die beiden in diesem Jahr wieder dabei sind. Sie als L’Oréal-Girl und Jury-Präsidentin und ihr Ex-Mann mit einem neuen Film im Wettbewerb – was weniger elegant ist. Und Gong Li hin oder her: Gerade bei den 50. Filmfestspielen schielt man doch mal wieder mit verstohlenem Neid zur protzigen Präsidenten-Genealogie von Cannes rüber: Coppola, Scorsese, Cronenberg. Zum System von Forumsleiter Ulrich Gregor gibt es die bezeichnende Geschichte von der indischen Regisseurin, die vor ein paar Jahren während der Berlinale auf dem Forumsempfang völlig begeistert vor dem Buffet stand und meinte: „Wie nett, jeder hat was mitgebracht.“ Damit lag sie eigentlich gar nicht so falsch, denn so ist das irgendwie beim Forum, jeder bringt was mit, und zusammen verschmelzen alle einträchtig zum großen Cineastenkollektiv („Ein Film im Stil von Robert Bresson“, wie es immer wieder in den Forumsblättern heißt). In diesem Jahr ist auch eine Konfektschachtel dabei, mit der ein chinesischer Regisseur seinen Film an den Behörden vorbeigeschmuggelt hat.

Und natürlich: Wo, wenn nicht im Forum, könnte ein Film laufen, der während einer einzigen dreistündigen Einstellung einen Schauspieler eine Himmler-Rede vortragen lässt? Oder einer, der während einer Theateraufführung nicht die Bühne, sondern die Reaktionen der Zuschauer zeigt?

Eine gewisse Passivität bzw. Ermüdung scheint allerdings auch das System Gregor ergriffen zu haben, insofern man insgesamt zu viele Filme spielt und sich inzwischen vielleicht ein wenig zu sehr darauf verlässt, dass die alten Stammgäste nach wie vor ihre Arbeiten abliefern (Marker, die Junges, Hongkong-Action, Beckermann, Verow). Vielleicht funktioniert auch die alte Strategie des Möglichst-viel-ins-Programm-Quetschens nicht mehr so recht, auch angesichts der Konkurrenz anderer Festivals, wie zum Beispiel Rotterdam, das Regisseure auch durch Koproduktionen an sich bindet – Rotterdam finanzierte auch den neuen Film von Jia Zhang Ke, dessen Erstling „Xiao-wu“ noch vor zwei Jahren die große Entdeckung des Forums war.

Festivalsysteme reproduzieren sich nicht nur selbst, auf geheimnisvolle Weise werden es auch immer mehr. Angesichts dieses Overkills versucht das Panorama durch konsequente Durchmischung von Publikum und Branche seit einiger Zeit zu verhindern, dass die eigene Veranstaltung zur Museumsvitrine wird, in der die Filme nach der Show hängen bleiben. Womit sich die Linie des Panorama-Begründers Manfred Salzgeber fortsetzt, der versuchte, seine angeblich unspielbaren und schwullesbischen Filme mit dem eigenen Verleih kommerziell auszuwerten. Auch der dieses Jahr zum ersten Mal verliehene Manfred-Salzgeber-Preis (30.000 Mark) ist als kleine Starthilfe für den Weg raus aus dem Festivalbiotop gedacht.

Nach dem Festival ist vor dem Festival: Für Moritz de Hadeln und Ulrich Gregor müsste der Umzug zum Potsdamer Platz eigentlich bedeuten, das Schiff almählich für die Zukunft bzw. die nächste Generation der Festivalchefs klarzumachen. Eigentlich schade, dass die beiden Herren nach all den Jahren immer noch ein Konkurrenzverhältnis haben. Sonst könnte man sich gut vorstellen, wie sie in zwei, drei Jahren während der Berlinale unten in der Hyatt-Bar einen heben und über ihre Nachfolger lästern.

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