Morgens im Handstand im Hotelflur

■ Die Athleten des Chinesischen Staats-zirkus fliegen und verknoten sich vor bom-bastischer Soundkulisse auf der Bürgerweide

Seit einem halben Jahr tourt der Chinesische Staatszirkus nun schon durch Deutschland. Seine 1700 bequemen orangefarbenen Plastiksitze bekommt er auch an Unorten voll, in Konstanz, Traunstein und sogar Schwäbisch-Gmünd. In China ist er fast nur noch zum Erproben neuer Programme. Das heißt Stress. Ausgerechnet diese Menschen, die einst mit dem Begriff „fahrende Gesellen“ behasswundert wurden, arbeiten mit gnadenloser Effizienz – müssen sie. Am Tag des Aufbaus läuft auch schon das erste Programm. Geprobt wird zwei bis drei Stunden am Tag, nicht selten nach der Vorstellung, um Mitternacht. Und selbst nach der Premierenfeier hüpfte ein einsamer Mann übers Seil im großen, leeren, blauroten Rund. Katalog-O-Ton: „Manchmal trifft man chinesische Artisten morgens um sechs Uhr im Handstand in Hotelgängen an.“

Abnutzungserscheinungen bleiben da nicht aus, ein Verband am Knie, eine Stützbandage am Ellbogen ... Und genau das will der Besucher auch erleben: die Geburt der Schwerelosigkeit aus Schweiß und Tränen. Das aktuelle Programm heißt „Yin-Yang“ und Yin heißt, glaube ich, Tränen, Yang Schweiß. Nur, schwitzen tun diese Menschen seltsamerweise nicht. Das fördert die Vermutung, dass es gar keine Menschen sind, sondern etwas anderes, vielleicht Gentomaten. Denn wie schafft es diese kleine Lady zum Beispiel, sich halsbrecherisch auf eine riesige Menschenpyramide hochzuschuften und dann auch noch vom Gipfel herab uns Erdschweinen zuzulächeln, und zwar bezaubernd. Eine Kollegin schwebt in der Luft, an einem winzigen Kissen festgebissen, stützt den Hintern am eigenen Hinterkopf ab und wedelt in dieser für den Menschen wenig gattungstypischen Ruhelage locker mit ein paar Tüchern. Ihr Rücken ist so schnittig gekrümmt wie die Ducati-Kurve des Hockenheimrings – und wer die schon mal gefahren ist, puh ... Ein höchsten 150 cm großer Mann faltet sich selbst zusammen: eine Briefmarke und er würde als Postsendung durchgehen. Und dann ist da ein Fliegen, Schleudern, Werfen. Eine kluge Zuschauerin: „Die verbiegen sich wie es die CDU mit Worten tut.“

Am Fernsehen, eingesperrt in den kleinen Kasten, mag so mancher diesen Zirkus für eine kitschig-bunte Leistungsschau halten. Live aber sind diese Athleten umwerfend. Dank des arenaartigen Aufbaus nämlich sitzt das Publikum ganz nah dran und sieht genau die Konzentration in den Gesichtern vor einem Sprung und das Zittern im Oberschenkelmuskel jener weiblichen Kraftmaschine, auf der sich diverse andere Damen türmen. 460 kg lasten auf ihr. Und unsereiner kriegt schon einen Hexenschuss, wenn man die zweijährige Nichte schultert.

Das Programm ist ganz klassisch: Jonglage und Selbstverknotungen für die Einzelkünstler. Und für die große Truppe gibt es Hechtsprünge durch enge Reifen, Pyramidenbau mit Hilfe eines Sprungbretts, Baumeln am Seil und Porzellanbalancieren. Meistens also quälen sich die Athleten an einem einzigen Ding ab. Überfluss herrscht lediglich bei den Kostümen: Girlanden kriechen um die Beine, Sternchen blinken vom bauchfreien Top, Lamettawedel winken aus dem Haar. Die Köpfe der prächtigen Rhönradfahrer sind als Fußbälle verkleidet. Und die Ladys, die Bauwerke errichten aus ihrem eigenen Fleisch, Sitzbänke und Plastikblumen, gehen als Technoqueens. Jeder Quadratzentimeter ist von Gestaltungswillen durchdrungen und fleckig. Am Anfang wird männlich getrommelt, und dann beginnt das große orchestrale Brausen aus der Konserve. In der Pause streiten sich Besucher, ob das eher nach Carmina Burana, Raumschiff Enterpreis, Akte X oder Hitchcock-Komponist Bernard Herrmann klingt. Ein bisschen Chinabimmeln ist natürlich auch dabei. bk

bis 27.2. täglich außer Montag 20 Uhr, Sa auch 15 Uhr, 20.2. 15+19 Uhr, 27.2. 14+18 Uhr, Preise 18,50 bis 62,50 Mark. Tickets 01805-255167 und 353637