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Ort des Verlusts

In Berlin wollen alle politisches Theater machen: Schaubühne, Volksbühne, BE. Das richtige Verhältnis zur Straße allerdings fehlt. Eine Polemik ■ von Stefan Strehler

Peymann wirkt kleinmütig und bieder, Ostermeier verwirrt vom eigens postulierten Realismus

Der Leiter eines Berliner Off-Theaters steckt sich noch eine Zigarette an und sagt dann, er habe das ja immer abgelehnt, aber er sei sich sicher, dass es in nächster Zukunft eine Art Renaissance des politischen Theaters geben werde. Was politisches Theater sein soll, weiß er auch nicht genau, aber es hat wohl mit Zeitgenossenschaft, mit Reflexion und mit starken Aussagen von der Bühne herab zu tun, vor allem aber damit, dass Theater ein Live-Medium ist. Theoretisch könnte es jeden Abend auf das reagieren, was draußen und im Publikum gerade passiert. Und das Publikum könnte auf das Theater reagieren. Praktisch sieht es etwas anders aus.

Alle großen Berliner Theater, die im Moment von sich reden machen, wollen politisches Theater machen: Volksbühne, Schaubühne, BE. Sie wollen den Staat kritisieren, repolitisieren, anarchistisch und obsessiv sein, kurzum: Sie wollen Theater machen, das in der öffentlichen Auseinandersetzung eine Rolle spielt. Alle wissen, dass ein Theater, über das nicht gesprochen wird, kein gutes Theater sein kann.

Claus Peymann beherrscht diese Disziplin seit Jahren souverän. Er hat früh begriffen, dass es unwichtig ist, ob man mit seinem Theater im Zuschauerraum etwas auslöst. Wichtig ist, dass die Zuschauer kommen. Wenn man laut und oft genug behauptet, dass man den Herrschenden auf die Finger schauen will, kann man damit rechnen, dass einem selbst auf die Finger geschaut wird. Erstes Resultat dieser Theaterpolitik: Alle Theater melden gute Auslastungen, manche sprechen gar von einem Theaterboom.

Peymann hat auf seine Art die Berliner Theaterszene aufgewirbelt. Im Februar ließ er auf der Rückseite des BE-Programms die 23 knalligsten feuilletonistischen Wortmeldungen der letzten Wochen noch einmal zitieren, darunter die Entgleisung von Thomas Ostermeier, der es marktschreierisch auch gut machen wollte und in einem Interview in Sachen Peymann fragte: „Was will der denn – bevor er ins Grab springt noch mal auf seinem eigenen Grabstein tanzen?“ Castorf, cooler: „Peymann hat einen Knall. Der Knall passt aber gut in die Stadt.“ Und Peymann sagte, dass er „aus einer strikten moralischen Position heraus an die Arbeit gehen“ will.

Aus dem erhellendsten Interview der letzten Wochen wurde leider nicht zitiert. Das hat der Schauspieler Martin Wuttke gegeben, nachdem er wegen künstlerischen Unvereinbarkeiten am BE die Proben zu „Hamlet“ abbrechen musste. Er erzählt, wie schwer es dem Schauspieler geworden ist, direkt auf das Publikum einzuwirken. Der eigentliche Austausch findet nicht mehr zwischen Schauspieler und Publikum statt, er verkommt zum öffentlichem Marketinggeschwätz oder verliert sich im privaten Gespräch hinter der Bühne. „Das ist äußerst schmerzhaft“, bekennt Wuttke.

Wer öfter ins Theater geht, findet diesen Eindruck schnell bestätigt. Das letzte, ein bisschen brisante politische Stück hat Christoph Schlingensief vor einem Jahr über die „Berliner Republik“ gemacht. Schlingensief, von dem im Moment kaum einer was wissen will, brachte es meisterhaft fertig, die Gemüter zu erhitzen und sein Publikum zur Stellungnahme zu zwingen. Und zwar während der Aufführung, im Theatersaal. Die letzten Premieren der Intendanten Castorf, Peymann und Ostermeier hinterließen eher Ratlosigkeit. Castorf („Das obszöne Werk“) wirkte einfallslos und müde; Peymann („Das Ende der Paarung“) kleinmütig und bieder; Ostermeier („Personenkreis 3.1“) vom eigens postulierten Realismus verwirrt.

An der Schaubühne fordert einzig die bizarr-trockene Brecht-Adaption „Das Kontingent“ (von den Frankfurtern Schuster/Kühnel) zu einer Auseinandersetzung heraus. Am BE regiert durchweg kulinarische Langeweile. Und an der Volksbühne bekämpfen Castorf und Kresnik ihre Obsessionen. Bei Kresnik gibt es inmitten einer verrückten und turbulenten „Don Quixote“-Aufführung immerhin einen spannenden Moment, als eine Putzfrau den alten Scherben-Song „Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität“ anstimmt, nachdem sie zuvor lange Passagen aus dem Kommunistischen Manifest zitiert hat. Obwohl die Stelle zynisch gemeint ist, spürt man eine nostalgische Welle des Aufruhrs durchs Publikum laufen.

Das sind natürlich nicht die scharfen aktuellen Sachen, die man sich in einem boomenden Hauptstadttheater vorstellt. Dennoch ist es interessant, dass der Choreograph Hans Kresnik Emotionen und Reflexionen hervorrufen kann, wie es seinen Sprechtheaterkollegen nicht so recht gelingt. Auch seine jüngere Tanzkollegin Sasha Waltz an der Schaubühne kann das, wenn auch mit völlig anderen Mitteln. Während Kresnik für einen fundamentalen Anarchismus steht, spürt man bei Waltz die brodelnde Atmosphäre einer zusammenrückenden Welt. Ihre „Körper“-Recherche ist so lässig geschnitten wie ein Film von Jim Jarmusch und gleichzeitig das leidenschaftliche Statement einer Künstlerin, die sich emotional und assoziativ mit den Veränderungen ihrer Umwelt auseinandersetzt. Beide, Waltz und Kresnik, stehen, bei aller Unterschiedlichkeit, für eine künstlerische Vision, die sich durch eine präzise, egozentrische Haltung zu den Fragen der Zeit auszeichnet. Die sich im Geschwätz äußernde Sprachlosigkeit wird im Moment am ehesten von einem theatralischen Tanz überwunden, der sich mit gelockertem Formbewusstsein der Gegenwart stellt.

Es besteht der Verdacht, dass die vorauseilenden Vibrationen eines neuen Streits um Sinn, Zweck und Grundlage dieser demokratischen Republik (wie er zweifelsohne ansteht) ihr Echo bislang nur in den Körpern finden, weil den gerühmten jungen Dramatikern noch die Worte dafür fehlen. Die sitzen zusammen mit den Regisseuren, den Dramaturgen und den Kritikern unter derselben Käseglocke und lesen die falschen Bücher. Wenn einer mal pupst, dann glauben sie, es wäre etwas passiert. Dem Theater ist das richtige Verhältnis zum Draußen, zur Straße, diesem „seltsamen Ort der Begegnung und des Verlusts“ (Billy Childish), verloren gegangen.

Die Straße ist heute weniger der romantische Platz einer moralischen Echtheit, sondern mehr denn je eine natürliche Bühne babylonischer Vielfalt, ein schillernder Ort der Kontingenz. Selbst in Ostermeiers Außenseiterstudie, die auf der Straße spielt, dominiert aber eine beklemmende sozialarbeiterische Enge, sodass die Ansätze von utopischer Skurrilität und menschlicher Würde als krämerische Betroffenheitstragödie verenden. Dabei tanzt in Berlin an jeder Ecke irgend ein seltsames Paar seinen nervösen Liebestango. Es wäre eine politische Großtat, würde man im Theater davon etwas mitbekommen. Von dieser weiten, lustvollen und lästigen Spannung, in dieser Zeit am Leben zu sein. In Worten, die der Dichter nicht den Leuten auf der Straße vom Maul geschaut, sondern die er erfunden hat, um dieses Leben herauszufordern.

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