Eine Badehose aus Leder

Eine Kurzgeschichte von Wladimir Kaminer

Als der Professor nach Deutschland kam, hatte er wesentlich mehr Geld als ein durchschnittlicher Einwanderer. Ein Leben auf Kosten des Sozialamtes kam bei ihm nicht in Frage. Im Gegenteil kaufte sich der Professor sofort einen Ford Scorpio und konnte mit Hilfe eines Maklers eine große helle Wohnung in der Knaackstraße erwerben.

In Moskau hatte der Professor am pädagogischen Krupskaja-Institut „Die Erziehung der Jugend in der sozialistischen Gesellschaft“ unterrichtet. Außerdem untersuchte er die Rolle verschiedener Haustiere in der Dorffolklore. Seine wissenschaftliche Arbeit, die ihm den Professortitel einbrachte und danach auch noch als Buch erschien, hieß: „Die Bedeutung der Ziege im Bewusstsein des russischen Volkes“. Obwohl Mitglied der KPdSU hatte der Professor keine klaren politischen Ansichten. Manchmal dachte er darüber nach, wie man alles im Lande besser organisieren konnte, aber er schrieb seine Gedanken nie auf und verriet sie auch niemandem. Der Professor war wie viele seine Zeitgenossen ein Liberaler. Als neue Zeiten anbrachen, hatte der Professor die Gefahren, die in einem solchen Umbruch lagen, nicht gleich erkannt. Er würde genausogut „Die Erziehung der Jugend in der kapitalistischen Gesellschaft“ unterrichten können, dachte der Mann naiv. Es kam aber anderes – kein Mensch brauchte mehr eine solche Ausbildung, die Jugend nahm ihre Erziehung in die eigene Hand, und das Institut wurde geschlossen. Die Räume wurden an die Betreiber einer Technodisco vermietet. Der Professor bekam sein Gehalt immer unregelmäßiger, schließlich gar nicht mehr. Die Regierung konnte nicht alle Angestellte, die arbeitslos geworden waren, auf einmal bezahlen. „Zuerst die Bergarbeiter,“ sagte der Regierungssprecher im Fernsehen, „dann die Ärzte.“

Der arbeitslose Professor guckte viel Fernsehen. Er wollte auf diese Weise die dunklen Botschaften der neuen Zeit für sich entziffern. Besonders interessierte ihn das neue Programm im Ersten „Was tun?“ – ein Programm für die russische Intelligenz mit wenig Werbung. Dessen Botschaft ließ sich aber schwer begreifen. „Gehen Sie in den Wald,“ riet der Moderator, „sammeln Sie Pilze und Beeren.“ „Geh doch selber in den Wald!“, erwiderte der Professor leichten Herzens und schaltete die Kiste aus. Seine liberalen Freunde behaupteten, die einzige Rettung sei die Emigration. Der Professor packte seine Sachen zusammen, verkaufte die Wohnung und fuhr nach Deutschland. Hier bekam er als Halbjude humanitäres Asyl und durfte also bleiben. Nur eins quälte ihn: dass er nichts zu tun hatte.

In einer Zeitung las er eine Annonce, das in Berlin ein russischer Kindergarten eröffnete und Betreuer gesucht wurden. Sofort meldete sich der Professor und wurde auch von zwei jungen Frauen, den Inhaberinnen, eingestellt – auf 620-Mark-Basis, für 9 Mark die Stunde. Abends ging er zu seinem Nachbarn, einem Schneider, der auch aus Russland kam und eigentlich Archäologe von Beruf war. Erst in Deutschland, wo es nicht so viel auszugraben gibt, machte er eine Umschulung. Nun kaufte der Archäologe auf dem Flohmarkt billige Klamotten, trennte sie auf und machte daraus neue, pfiffige Kleider, die er in einer russischen Boutique am Kurfürstendamm verscheuerte. Jeden Abend saß er an der Nähmaschine, und der Professor schilderte ihm sein versautes Leben.

Zuerst hörte der Archäologe interessiert zu, doch irgendwann merkte er, dass der Professor sich oft wiederholte und ihn mit seinen Geschichten derart aus dem Gleichgewicht brachte, dass er nicht mehr gut nähen konnte. „Wissen Sie was, mein Freund,“ sagte er eines Tages zum Professor, „das sind alles so tolle Geschichten, die müssen sie unbedingt aufschreiben, es könnte ein prima Roman daraus werden. Ich kenne jemanden, der hier Bücher auf Russisch verlegt und würde Sie empfehlen.“ Dem Professor gefiel diese Idee. Er fand den Sinn seines Lebens wieder.

Monatelang verbarrikadierte er sich in seinem Arbeitszimmer. Eines Tages in Frühling tauchte er wieder beim Schneider auf – mit einer dicken Ledertasche in der Hand. Strolz holte er daraus einen riesigen Stapel Papier heraus. „Hier,“ sagte er, „mein Roman. Lesen Sie ihn bitte – schnell, aber vorsichtig. Ich lasse Ihnen die Tasche da, damit sie keine Blätter verlieren. Mich würde Ihre Meinung sehr interessieren.“ Dann ging er. Der Schneider warf das Manuskript in den Mülleimer, die Geschichten kannte er ja bereits. Dann nahm er die alte Ledertasche des Professors auseinander und nähte sich daraus eine Badehose – ein alter Traum ging dadurch in Erfüllung. Als er noch Archäologie in der Sowjetunion studierte, hatte er einen Brief aus Amerika bekommen. Seine Tante, die seit zwanzig Jahren dort lebte, wollte Russland besuchen und fragte ihn, was er für Geschenke haben wolle. Er konnte sich an die Tante gar nicht mehr so richtig erinnern und führte gerade – als Student – ein sehr ärmliches Leben. Ihm fehlte es an allem. Er hatte weder eine richtige Wohnung noch genug zu essen.

Voller Bitterkeit schrieb er zurück: Danke, er habe alles, nur eine Lederbadehose nicht, die er jedoch gut gebrauchen könne. Die Tante verstand den Witz nicht. Als sie in Moskau ankam, hatte sie eine ganze Kiste voller Geschenke dabei, aber nicht die Badehose. „Es tut mir Leid, Junge“, sagte sie, „ganz Amerika habe ich auf den Kopf gestellt, aber nirgends eine Lederbadehose gefunden. Sie sind wahrscheinlich bei uns aus der Mode.“ Wo immer ihn später sein Schicksal hinverschlug, erinnerte sich der Schneider an diese Geschichte. Nun hatte er sie – die tolle Badehose aus der Aktentasche des Professors.

Der Professor erkundigte sich vorsichtig einmal in der Woche, ob der Schneider den Roman schon gelesen hätte. „Ich hatte so viel zu tun,“ schüttelte der Schneider jedesmal bedeutungsvoll den Kopf. Der Professor ließ jedoch nicht locker. Eines Tages kam er am frühen Sonntagvormittag. Es war schon Sommer – der Schneider saß auf dem Balkon mit einer Flasche Bier in der Hand und fing die Sonne ein. Er hatte nur eine Badehose an – die aus Leder. Der Professor setzte sich neben ihn und nahm auch eine Flasche Berliner Pilsner. „Ach übrigens,“ begann er das Gespräch, „haben Sie schon in mein Manuskript reingeguckt?“ – „Oh, ja“, sagte der Schneider, „ich fand es sehr beeindruckend, wie sie das alles beschrieben haben ...“ .

Der Blick des Professors blieb an der Badehose hängen. „Ein neues Kunstwerk? Komisch, ich hatte früher eine Tasche, die genau in diesem Farbton war ...“ „Ach Quatsch“, sagte der Schneider, „ich kenne Ihre Tasche, die ist anders.“ – „Sie ist anders?“ – „Ja, sie ist ganz anders!“ Die Sonne strahlte.

Zitat:

„Hier“, sagte er, „mein Roman. Lesen Sie ihn bitte – schnell, aber vorsichtig.“