hausmeister, mitleid etc.
: Sie hat ein verblüffendes Faible für Farben

DIE NACHBARIN

Meine Nachbarin hat ein verblüffendes Faible für Farben. Verblüffend, denn von ihrem Wohnverhalten her zu urteilen dürfte sie Farben eigentlich gar nicht mögen. Die Rolläden ihrer Fenster sind zu jeder Uhr- und Jahreszeit heruntergedreht. Kein Sonnenschein lässt die Farben der putzigen Tässchen und Schälchen, der samtenen Sitzpolster, der Engelchen und Püppchen aufleuchten. Bei ihr herrscht Dämmerung.

Meine Nachbarin dreht die Rolläden nur auf, wenn sie aus dem Haus gehen will. Dann lässt sie die Leiter durchs Fenster, klettert die frisch polierten Sprossen herunter und stakst erhobenen Hauptes zur Straße. Erst hier entfaltet sich die Farbenpracht, mit der sie sich schmückt: Rosa, Golden, Rot, Grün, Violett, Gelb, Türkis . . . nur ein Manet könnte die Vielfalt von Tönen und Schattierungen richtig schätzen.

Der Hausmeister kann es jedenfalls nicht. Immer wenn er sie zurück ins Haus schreiten hört – ihr Stöckeln kann man aus einer Entfernung von hundert Metern hören –, versucht er, sich zu verstecken. Sie muss ihn aber durchschaut haben: Seit einiger Zeit hat sie eine neue Taktik entwickelt. Vielleicht hat sie sogar ihre Schuhsohlen mit Filz bezogen, ich weiß es nicht. Tatsache ist, dass sie jetzt mit sanften, unmerklichen Schritten ins Haus huscht und plötzlich vor dem Hausmeister steht.

Pech gehabt! Jetzt kann er sich nicht mehr um den Kampf herumdrücken. Das Duell beginnt. Streitfrage ist, wer zuerst das Grußwort ausspricht, das Ziel ist, es als Letzter loszuwerden. Also stehen sich die zwei Konkurrenten gegenüber, schauen sich herausfordernd in die Augen, und – das bescheidene „Guten Tag“ kommt nicht zustande. Stattdessen: „Du Hexe!“, „Du Lump!“, „Du Hure!“, „Du Hurensohn!“ usw. Bis die Farben, die das Gesicht meiner Nachbarin so kunstvoll zieren, sich in kleine, schmierige Tropfen auflösen. Die Kampflust ist gebrochen. „Kein Mensch respektiert mich, keiner liebt mich“, kreischt sie nur noch.

Dann hält es meine Mutter nicht mehr aus. „Die arme Frau“, sagt sie, „sie hat ihren Mann und den Verstand verloren.“ Sie holt die Nachbarin in die Wohnung, um das zerstörte Gemälde auf ihrem Gesicht mit süßen Likören zu restaurieren. Dass diese Wohltat die restlichen Familienmitglieder dazu zwingt, sich in ihren Zimmern einzusperren, darum schert sich meine Mutter nicht. Wenn es um Mitleid geht, ist sie unbarmherzig.AURELIANA SORRENTO