Ein vom Himmel vergessenes Land

Dürre. Seit drei Jahren bleibt im Südosten Äthiopiens der Regen aus. Zum Überleben fehlt es inzwischen an mehr als nur Wasser

von RACHEL STABB

Erster Tag: Gode. Eines Tages könnte der Name Gode in die Geschichte eingehen als der Ort, wo die zweite große äthiopische Hungersnot verhindert wurde. Wenigstens hoffen das die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die hier gegen Äthiopiens Kreislauf der Armut ankämpfen.

Gode ist eine bittere Ecke in der erbarmungslosen Landschaft des Südostens von Äthiopien. Gode ist flach bis an den Horizont, der Wind wirbelt den Staub durch die Luft, und mittags erreicht die Temperatur 40 Grad. Selbst die Viehhirten, die schon immer hier leben, leiden: Seit drei Jahren herrscht Dürre.

An der Hauptstraße schlürfen die Leute guten äthiopischen Kaffee auf kleinen Hockern unter Strohdächern. Manchmal wird ein Esel vorbeigetrieben, beladen mit einem Fass kostbaren Flusswassers.

Wo einst grüne Weideflächen außerhalb Godes die fettesten Schafe der Region produzierten, erstreckt sich nun ein Staubbecken, übersät mit Flecken unansehnlicher Buschgewächse. Herden dünner Schafe staksen herum auf der Suche nach dem kleinen Stück Grün, das sie einen weiteren Tag am Leben halten wird.

Zweiter Tag: Gode, Krankenhaus. Die Farbe blättert von den Wänden, geschwächte Menschen liegen auf alten Bettgestellen oder Matten am Boden. Hustengeräusche deuten darauf hin, dass Tuberkulose grassiert – Begleiter der Unterernährung, wenn das Immunsystem zu schwach wird, um Infektionen abzuwehren.

Die Ärzte haben keine Wahl: Sie müssen die Leute aus Gode und der Umgebung aufnehmen. Das nächste Hospital ist in der Stadt Jijiga, 600 Kilometer entfernt. Aber Chefarzt Dr. Tajudin, 26 Jahre alt, geht die Herausforderung mit Geduld und Würde an.

In der Pädiatrie sitzen ein halbes Dutzend Frauen mit winzigen Babys im Arm. Sie alle sind tagelang gelaufen. Sarah Mohammed Madj ist heute angekommen. Von ihren zehn Kindern sind während der zehntägigen Reise zwei gestorben. Sieben spielen draußen, das Jüngste hält sie auf dem Schoß. 200 Rinder und 100 Schafe hat sie verloren, erzählt sie – eine Herde, die sich mehrere Familien teilten und die den gesamten Reichtum dieser Leute darstellte.

Die Hitze drückt. Einige, die hier liegen, werden morgen nicht mehr da sein.

Dritter Tag: Deraye. Der große Shebele-Fluss, der aus dem äthiopischen Hochland durch Gode nach Somalia fließt, ist wie eine Lebensarterie für die ausgetrocknete Stadt. Es ist ein bitterer Schicksalsschlag, dass Regenfälle in den Bergen zu Überschwemmungen unten in der Dürreregion führen können. Dann steht der Fluss sechs Meter hoch und spuckt dunkelrote Erde aus den Bergen in die Ebene. Jetzt ist keine Überschwemmung; das Wasser reicht gerade.

Aber was für Wasser? Wir fahren 70 Kilometer heraus nach Deraye. Dort gibt es dreizehn Wasserlöcher. Sie liegen in einem flachen Felsengebiet, mit einem einzigen Baum als Schattenspender.

Ein kleiner Junge rutscht ein Wasserloch hinunter, einen schwarzen Wasserkessel in der Hand. Er klettert so tief, dass man ihn kaum noch sehen kann. Ein paar Minuten später kommt er wieder hoch und gießt die Wasserprobe in unsere Flasche; in Gode wird sie analysiert. Nur vier der dreizehn Löcher haben noch Wasser; es ist rationiert. Schwer zu glauben, dass sich hier früher bis zu 5.000 Kamele drängten, um sich satt zu trinken.

In Deraye selbst ist gerade der Wasserwagen angekommen. Der ganze Ort kommt aus den Hütten hervor ins grelle Sonnenlicht. Es ist die erste Lieferung seit drei Tagen, also wird alles gefüllt, wo Wasser hineingeht.

Vierter Tag: Nach Jijiga. Jijiga ist die Hauptstadt der Somali-Region Äthiopiens. Um Jijiga werden viele Menschen aus dem 600 Kilometer entfernten Gode erwartet, die mit ihrem Vieh hierher wandern, wo die Weiden noch etwas besser sind.

Das Flugzeug kurvt über eine faszinierende Landschaft aus Schluchten und Terrassen, die sich um Abgründe schlängeln. Vielerorts sind die Wunden zu sehen, die die Entwaldung in die Landschaft geschlagen hat.

In Jijiga können wir nicht landen: Das Wetter sei zu schlecht – es soll endlich Regen geben. Ein Segen für die Bevölkerung. Wir müssen in der nahen Stadt Dire Dawa bleiben.

Fünfter Tag: Das Jerer-Tal. Ich wusste nicht, wie kostbar eine Pfütze sein kann, bis ich nach Jerer kam. Es hatte in der Nacht geregnet. Auf dem Weg von Jijiga Richtung Somaliland liegen Wasserlachen auf der Straße, und die Leute sammeln das Wasser auf. Noch in der kleinsten Pfütze kratzen sie mit alten Dosen den letzten Tropfen von der Erde.

Noch eine Besonderheit: Die Rinder und Schafe grasen. In Gode geht das nicht, sie laufen immer herum auf der Suche nach Grün. Diesen Herden geht es besser.

Das Jerer-Tal östlich von Jijiga ist die einzige Wasserquelle der Gegend. Es gibt ein Loch, von wo aus ein Landstrich von 50 Kilometern Durchmesser mit Wasser versorgt wird. 180 Kilometer fährt der Wagen jeden Tag, um 20.000 Liter zu verteilen. Aus dem Loch wird das Wasser in einfache Schlammlöcher gepumpt, um jedes dieser Löcher werden ein paar kleine Tiertränken angelegt. Es ist ein Gewusel von Menschen, Tieren und herumspritzendem Wasser. Kamele thronen stolz daneben mit Dutzenden gelben Wassercontainern an ihre Sattel geschnürt.

Was ist, wenn die Zuwanderer aus Gode auch hierher kommen? Jerer und Jijiga können diese Belastung nicht aushalten.

Siebter Tag: Haysuftu. Nach einem Tag in der äthiopischen Hauptstadt geht es in den äußersten Südosten Äthiopiens, nahe der Grenze zu Somalia. An der Straße kommt ein junger Mann mit Kalaschnikow auf uns zu: Adam Sharif, Sprecher einer Gruppe von Flüchtlingen. Seine Leute haben vor drei Jahren die meisten ihrer Kamele in einem Clankonflikt verloren und die anderen verkauft, um Bauern zu werden. Aber ohne Regen können sie nichts anbauen.

Bis vor kurzem waren sie in Haysuftu, eine große Niederlassung mittelloser Dürreflüchtlinge. Normalerweise sorgt die Clankultur dafür, dass Essen und Vieh geteilt werden. Jetzt aber müssen die Viehbesitzer fortziehen und Weideland suchen, sodass die Schwächsten zurückbleiben.

In Haysuftu steht Habibo Ali vor uns, einst Mutter von acht Kindern. Zwei verlor sie auf der Wanderung, um die anderen macht sie sich Sorgen. Ihre beiden spindeldürren Zwillinge stehen still neben ihr. Heute ist die Hochproteinnahrung für unterernährte Kinder ausgegangen. Wann die nächste Lieferung kommt, weiß niemand.

Achter Tag: Richtung Somalia. Abdi Abdulahi Hussein organisiert die humanitäre Hilfe in Liben und Afder, dem südlichsten Teil der Somali-Region. Der große, kantige Mann mit scharfen Augen und langen eleganten Händen gründete vor fünf Jahren die Hirtenvereinigung PCAE und will nun in Afden ein Büro eröffnen.

Sorgfältig übersetzt er die Geschichten von Frauen, die alles verloren haben, von Kindern zwischen Leben und Tod. Abdi entkam den Schergen der kommunistischen Diktatur Mengistus in den 80er-Jahren und schrieb ein Buch über seine „Unglückliche Generation“. Er möchte gerne weitere Bücher schreiben. Aber erst will er sicherstellen, dass die Welt von Afder erfährt.

Neunter Tag: Afder. Der Bezirk Afder ist anders. Vorher erklärt unser Fahrer immerzu: „Es sollte so grün sein, um diese Jahreszeit.“ Afder aber sei schrecklich. Ozeane von Sand, klagt er.

Tatsächlich: Afder ist anders. Die Straße ist weg. Der Fahrer kennt die Strecke auswendig, das Auto hopst von Busch zu Busch. Später müssen wir die Autos ausgraben. Für 40 Kilometer brauchen wir dreieinhalb Stunden. Wie soll hier Hilfe geleistet werden?

Zehnter Tag: Schlimmer als Gode. Ganz Äthiopien sorgt sich um Gode und die Dürrekrise dort. Aber Cheretti und der Afder-Bezirk sind völlig vergessen.

Der Fluss Weib ist trocken, zum ersten Mal seit Menschengedenken. Die Fische sind tot. Man erzählt, dass die Krokodile in die Felder kletterten, um Ziegen zu fangen. Überall hängt Aasgestank in der Luft. Im trockenen Flussbett graben Frauen Löcher und hoffen, Wasser zu finden.

Seit zwei Wochen ist hier keine Hilfe angekommen. Überall, wo wir hingehen, machen die Frauen eine einfache Geste: Sie führen die Hand zum Mund.

2.500 Tonnen Lebensmittel soll es geben, sagen die Beamten. Das stehe in einem Telegramm, das sie heute gekriegt haben. Aber es dauert zwei Monate, diese Menge hierherzubringen. Und die Zahl der Bedürftigen ist seit Festlegung des Bedarfs um 50 Prozent gestiegen, auf 300.000 Menschen.

Hierher kommen keine Journalisten. Es gibt kein Telefon, keine Straßen, keine Flugpiste. Und es gibt keine Zeit mehr.

Übersetzung: DOMINIC JOHNSON