: Pfeilschnelles Augenblicksverschwinden
Goldene Zeiten für Literatur (III): Die neueste Tendenz der Literatur bleibt das Schreiben gegen den Tod. Auch wenn das unmodern erscheint
■ Abfall für alle? Die neue deutsche Literatur: Schnell geschrieben? Schnell gelesen? Schnell weggeworfen? Eine Artikelreihe über Popliteraten, Jungschriftsteller, Markterfolge und die Folgen
von HANS-ULRICH TREICHEL
Es kann vorkommen, dass ein Autor, der für ausreichend diskurs- und mitteilungsfreudig gehalten wird, nicht nur zu Lesungen, sondern auch zu Vorträgen und Seminaren eingeladen wird. Er darf dort im Prinzip über alles reden, lieber aber ist es den Einladenden, wenn er „Zur Lage der Gegenwartsliteratur“ spricht oder über „Neueste Tendenzen zeitgenössischer Literatur“. Dagegen ist nichts zu sagen, schließlich hat jeder Leser und Literaturinteressierte ein Recht auf Orientierung.
In den Feuilletons finden sich denn auch regelmäßig Artikel, die aus Augenblicksphänomenen und Tagessymptomen eine Tendenz herauszupräparieren oder sogar den Geist oder Ungeist der Zeit in ihnen zu entdecken suchen. Auch das ist vernünftig, und es wäre vollkommen falsch, etwas dagegen einwenden zu wollen. Denn kein literarischer Stoff und kein literarisches Motiv, keine Weltsicht und wohl auch keine wie auch immer geartete Schreibhaltung bemächtigt sich eines Schriftstellerhirns, ohne dass sich dergleichen Stoffe, Motive, Weltsichten und Schreibhaltungen nicht auch weiterer Schriftstellerhirne bemächtigen würden. Mit dem Effekt, dass wir es fast niemals mit singulären Erscheinungen, sondern zumeist mit Syndromen und Symptombildungen zu tun haben.
Der Autor, der zu einem entsprechenden Vortrag eingeladen ist, weiß dies alles, und es scheint für ihn ein Leichtes, es den Feuilletonisten nachzutun und aus dem Neuesten eine Welle herauszuformulieren. Eine Popwelle beispielsweise oder eine Neoexpressionismuswelle, eine Literatur-und-Neurologie-Welle, eine Meine-Kindheit-in-den-Sechziger-Jahren-Welle, eine Es-wird-wieder-erzählt-Welle, eine Kriegs- und Nachkriegswelle oder eine Dorf- oder auch Berlinromanwelle. Das alles wäre machbar, die Feuilletons und Germanisten machen es ja auch und sozusagen ununterbrochen. Der eingeladene Autor also sagt zu, tippt die Überschrift „Neueste Tendenzen der Gegenwartsliteratur“ in den Computer – und stockt. Und je mehr er sich – mit Hilfe diverser Artikel um Überblick und Zusammenfassung bemüht, umso mehr zerfällt ihm die Literatur der Gegenwart in zahllose Einzelteile, aus denen sich kein Bild mehr zusammensetzen lässt.
Er sieht keinen Wald, nur noch Bäume. Er sieht keinen Pop, er sieht nur noch Neumeister, Götz oder Meinecke. Er sieht keine jungen Frauen, er sieht nur noch Inka Parei, Felicitas Hoppe oder Judith Hermann. Er sieht keine Kriegs- oder Nachkriegsnachwirkungen, er sieht nur noch Marcel Beyer, Norbert Gstrein, Bernhard Schlink oder auch Dieter Forte. Ihm geht es wie weiland Lord Chandos, der in Hofmannsthals „Ein Brief“ bekennt: „Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.“ Wobei hier nicht die Fähigkeit eines literarischen Sprechens gemeint ist, sondern diejenige, abstrakte Begriffe zu bilden und, so Chandos, „ein höheres oder allgemeines Thema zu besprechen“. Unser Autor also erleidet das, was man im Falle des Lord Chandos eine Sprachkrise nennt, was aber in Wahrheit eine Verallgemeinerungs- und Begriffsbildungskrise ist. Und darum bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich auf sein eigentliches Tun zu besinnen: die literarische Selbstreflexion.
Krisen können helfen, die Wahrnehmung zu schärfen. Hofmannsthals Chandos zerfielen wohl die Begriffe wie Pilze im Munde, zugleich aber lernte er hinzuschauen, und zwar mikroskopisch genau. „So wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und Handlungen.“ So kann es einem Autor auch mit seiner Gegenwart einschließlich der in ihr entstehenden Literatur gehen. Der Preis, den der Einzelne für dieses unfreiwillig genaue Hinsehen bezahlt, ist Vortrags- und Artikelunfähigkeit. Ein Preis, der mit erheblichen ökonomischen Nachteilen verbunden sein kann. Doch es gibt auch eine Gewinnseite, einen Krankheitsgewinn sozusagen: erhöhte Wahrnehmung durch Wegsehen, gesteigerte Einsicht durch Begriffsstutzigkeit. Wir kennen das aus der Tierwelt, von den Fledermäusen etwa, wo Einschränkungen der Sehfähigkeit außerordentliche Ausdifferenzierungen des Gehörs mit sich bringen. Auch unser Autor ist im Hinblick auf seine Diagnosefähigkeit eine Nachtexistenz. Und wahrscheinlich gehört es sogar zu den Bedingungen seiner Produktivität, dass er mit Blindheit geschlagen ist und keinen Überblick hat. Er weiß nicht, was los ist. Er muss Tag für Tag die Erfahrung machen, die Ernst Bloch einmal so fasste: „Der gelebte Augenblick ist dunkel.“
Das ist seine Arbeits- und Wahrnehmungsgrundlage. Er sieht nichts. Dafür hört er umso besser. Das ist seine Tendenz. Das ist der Vertrag, den er mit der Wirklichkeit geschlossen hat, um überhaupt schreiben zu können. Von hier aus nimmt er die Welt und sein Ich in den Blick. So sucht er schreibend seinen Weg durch die Nacht der Gegenwärtigkeit zu finden. Wobei es im besten Fall passieren kann, dass der Roman oder das Gedicht, das unser Autor dann schreibt, überaus erhellend ist, die Zeit, wenn nicht auf den Begriff, so doch exemplarisch ins Bild bringt. Um aber seine eigene Gegenwart oder die Gegenwartsliteratur auf den Begriff zu bringen, fehlt ihm nicht nur die Theorie, sondern auch die Erfahrung. Er hat noch immer nicht erfahren, was es heißt, ein Zeitgenosse zu sein. Zwar sieht er Fernsehen, liest Zeitung und reist durch die Gegend, aber er weiß nicht, was die Gegenwart ist. Er weiß allenfalls, was es heißt, älter zu werden und den gelebten Augenblick pfeilschnell wieder verschwinden zu sehen. Gefragt nach Tendenzen, könnte er sagen: Die Tendenz ist, dass die Zeit vergeht und dass wir sterben müssen. Die Tendenz ist, dass wir das nicht ertragen und dass wir schreiben, schreiben müssen, um das Unerträgliche halbwegs erträglich zu machen. (Sollten dabei gute Kritiken, ein saftiger Vorschuss oder gar ein Literaturpreis herauskommen, sind wir trotzdem nicht beleidigt.) Die Tendenz ist allerdings auch, dass diese Auffassung vom Schreiben als „Existential“ und heroisch-melancholischem Widerstandsakt gegen die Zeit und den Tod längst nicht mehr aktuell scheint.
Kürzlich saß unser Autor mit einer jungen Kollegin auf einem Podium, um über „Das Bild des Autors in der Gegenwart“ zu diskutieren. Der Autor trug wie immer bei solchen Anlässen obige Überzeugung vor, um von der jungen Kollegin zu hören, dass die Zeit wohl vergehe, dass der Mensch auch ein sterbliches Wesen sei, dass sie das aber nicht weiter beunruhige und dass sie auch nicht schreiben müsse, sondern schreiben wolle. Wenn sie es denn wolle. Sie könne es aber auch nicht wollen. So weit die junge Kollegin, die unseren Autor sprachlos machte und zu der Frage verleitete: „Sind Sie denn nicht melancholisch?“ Worauf die junge Kollegin nur „Nö“ sagte, was unseren Autor in eine Art Podiumseinsamkeit versetzte, von der er sich noch immer nicht erholt hat. Die Haupttendenz also wäre, dass der Autor einsam ist – sowohl am Schreibtisch als auch auf dem Podium. Und dass er sich daraus schreibend zu retten versucht. Wider besseres Wissen und jeder Einsicht zum Trotz.
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