: Die Schattenpflanze hegen
DAS SCHLAGLOCHvon FRIEDRICH KÜPPERSBUSCH
„Jetzt bin ich schon 35 Jahre und habe der Welt noch nicht für 35 Pence genutzt.“ James Watt
Der Legende nach starrte der trübsinnige Mann bei diesem Gedanken auf einen scheppernd brodelnden Kochtopf. Der Hub des Wasserdampfes, der den Deckel hüpfen ließ, gebar ihm die Idee. Die nämliche Versuchsanordnung, leicht verändert, trug ihm die Idee. Die nämliche Versuchsanordnung, leicht verändert, trug ihm bis heute Weltgeltung ein: Die Dampfmaschine. Die Erfindung der Fotografie soll sich ähnlichem Zufall verdanken. Meister Daguerre vergaß belichtete Glasplatten im Toilettenschränkchen, wo Quecksilberdämpfe die vergänglichen Schatten fixierten: aus Versehen entwickelt. Der Unterschied zwischen Watt, Daguerre und uns ist also eigentlich nur, dass wir sogar noch zu blöd sind, wenigstens zu merken, wenn uns zufällig ein Geniestreich unterläuft.
Neben dem 3:2 gegen Ungarn in Bern damals dürfte die Schwarzwaldklinik-Folge, in der erstmals ein Zivildienstleistender das Licht der Ateliers erblickte, zu den Gründungsbildern dieses Landes zu zählen sein. Was für eine Läuterung! „Eine ganze Armee ist ihnen davongelaufen“, schrieb Wilfried Schwamborn in seiner Traditionsfibelbibel „Handbuch der Kriegsdienstverweigerung“. Inzwischen sind es einige Armeen, die den „Kriegsdienst aus Gewissensgründen verweigert“ haben. Richard von Weizsäcker schlug Anfang der Neunziger vor, den Begriff „Kriegsdienst“ aus dem Grundgesetz zu streichen, weil er Wehrdienstleistende diskriminiere. Gegen das an Carokaffee und Billigmargarine gemahnende Schimpfwort „Ersatzdienst“ hatte das Staatsoberhaupt keine Einwände. Zehn Jahre später scheut er nun vor der weit nahe liegenderen Grundgesetzänderung zurück: den Dienst, ob nun Kriegs-, Wehr- oder eben Zivildienst, zu streichen. Hier „berühren wir die Grundfesten der Grundwerte unserer Verfassung“, gipfelt die Mahnung des Achtzigjährigen. Rudolf Scharping hat ihm das aufs Auge gedrückt, und elegant drischt er das Leder zurück in den gegnerischen Strafraum: Profiarmee – ja; nur noch ein Zehntel jedes Jahrgangs einziehen – auch ja. Schreiender ließe sich Wehrungerechtigkeit kaum mehr vorstellen.
Hindenburg wie Hitler befehligten Wehrpflichtige; ganz ablesbar an der jüngeren deutschen Geschichte sind Einberufene gegen verbrecherische Befehle nicht besser gefeit als Berufssoldaten. Die „allgemeine Wehrpflicht“ der Bundesrepublik bezog sich denn auch auf die Lehren der Friedenszeit, zwischen den Kriegen. Das marodierende Berufsheer der Weimarer Republik, die 100.000 in Versailles bewilligten deutschen Soldaten, lehnten die Demokratie ab, bildeten den berüchtigten „Staat im Staate“ und ließen keinen Putschversuch aus – auch den von Adolf Hitler nicht.
Das Gewissensrecht gegen den Kriegsdienst dagegen leitete sich tatsächlich aus dem Zweiten Weltkrieg ab. Auch hier forderten Väter des Grundgesetzes, die Verfassung nicht mit frommen Sonntagsreden zu befrachten. Doch die – zugegeben pathetisch anmutende – Formulierung fand Eingang, erst Jahrzehnte später war eine umstrittene „Wehrmachtsausstellung“ wieder nötig, die Wurzel des Gewissenskonfliktes freizulegen. Manche wollten es nicht mehr, nicht schon wieder wissen.
Die Schattenpflanze Zivildienst hatte es nicht leicht. Ganz amtlich als „Drückebergertum“ apostrophiert, mutwillig mit überlangem Dienst bestraft. Man scheute sich nicht, eine „höhere Abschreckung durch den Ersatzdienst“ zu fordern, wenn die Bundeswehr-Kasernen sich zu leeren drohten. Es half nichts: Schon seit einem Jahrzehnt dritteln sich schließlich die Jahrgänge in Wehrdienstleistende, ZdL und Davongekommene. Hier fängt die Beschämung bereits an, dieser Missstand war keine Royal Commission wert. Ebenso offen sprach man vom drohenden Pflegenotstand, so oft eine Abschaffung oder nur Minderung des Friedensdienstes anklang. Auch dies flagranter Gesetzesbruch: Denn die Aufgaben der Dienstpflichtigen müssen so beschaffen sein, dass sie nicht Erwerbskräfte ersetzen. Doch eben dies haben sie ganz unbestritten im Dienste ihrer Schützlinge getan. Sonst gäbe es die heutige Debatte um den Staatsnotstand ohne sie nicht.
Sowohl für das Inkrafttreten des Grundgesetzes wie für den Fall der Wiedervereinigung waren Volksabstimmungen über die Verfassung vorgesehen. Beide fanden nicht statt. Die nun allenthalben geäußerte Besorgnis um die Zukunft der „sozialen Dienste“ jedoch kommt einer Volksabstimmung über Grundwerte dieses Staates beeindruckend nahe: Deutschland will den Dienst an der Civis; und dem widerspricht nicht, dass es ihn auch bitter dringend braucht. Ob es die Lehre aus Weimar oder Stalingrad, Auschwitz oder Flandern oder jetzt Bosnien sein sollte, was da in Gesetzesform gegossen wurde und werden soll: Der bundesrepublikanische Alltag war den ungelenken Gesetzestexten überlegen und zog aus allem das Fazit: Junge Menschen sollen einen Dienst an der Gesellschaft tun, und dieser Dienst ist um so besser, je nachvollziehbarer er zum Gemeinwohl beiträgt. Der Zivildienst hat gewonnen. Aus Versehen.
Nun mag man trefflich Wahlen gewinnen mögen mit populärer Abschaffungsrhetorik. Mindestens die Grünen haben sich mit ihrem Menschenrechtskrieg selbst verboten, hier plötzlich sturzpazifistisch daherzupolemisieren. Ihr Beitrag mag sein, Dienst und Feminismus anzunähern; und in der Tat wäre eine Zivildienstpflicht für Frauen heute kaum mehr abzuweisen. Vielleicht etwas kürzer als bei den Jungs; das schüfe kleine Ungerechtigkeiten, berücksichtigte aber, dass sich Staatsbürgertum nicht mehr am Geschlechtsteil festmachen lässt. Umgekehrt jedenfalls handelt der Staat unverantwortlich, wenn er Männer augenzwinkernd aus der Kindsfürsorge entlässt, weil sie ja schließlich auch dienen mussten.
Kritisch merkt Kommisionschef von Weizsäcker an, man sei leider „nicht befugt gewesen“, Vorschläge zum Zivildienst zu unterbreiten. Um so dringlicher empfehle er, frei werdende Mittel in das hoffnungslos überlaufene freiwillige soziale Jahr zu stecken. Denn nötig sei „ein nachhaltiger Ausgleich für die von uns außerordentlich ernst beobachtete Auswirkung auf den Zivildienst.“
Das wird nicht klappen. Werden Mittel frei, sind sie weg. Basta. Das wurde unter Kohl so prognostiziert; das ist Wesen des Staatshaushaltes. Und der Geist der Freiwilligkeit ist nicht das, was das Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts auszeichnet. Nein, es verlangt nun nach einer kollektiven Gewissensentscheidung, ob wir jungen Menschen den Tort antun wollen, ihnen ein Jahr, vielleicht neun Monate ihres Lebens aus der freien Entscheidung zu rauben. Für möglichen Kriegsdienst waren wir dazu bereit.
Dann wird zu entscheiden sein, ob nicht eine Gewissensprüfung ablegen müsste, wer trotzdem unbedingt Töten lernen möchte. Wir können aber auch über die historische Chance dumpf hinweghuschen und eine Errungenschaft wegschmeißen. Mir ist schon klar, dass ich als ZdL-Veteran in zehn Jahren vor meinem Sohn stünde, mit nicht viel mehr in den Händen als: „Es hat mir damals nicht geschadet, Junge.“
Hinweise:Deutschland will den Dienst an der Civis – und braucht ihn zudem bitter dringendZu den Gründungsbildern dieses Landes zählt der Zivi in der „Schwarzwaldklinik“
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