: Was Sie predigen, ist Ignoranz
betr.: „Wehrhaftes Missverständnis“, Debattenbeitrag zum Umgang mit dem „radikalen Islam“, taz vom 17./18. 6. 00
Sehr geehrter Herr Brumlik, Sie fordern zu Recht, die Muslime als realen Bestandteil dieser Gesellschaft anzuerkennen und zu respektieren. Das geht jedoch nur, wenn man sie auch unverkrampft als das sieht, was sie sind – eine heterogene Gruppe, die unter sich Gruppen und Gemeinschaften mit klaren Strukturen gebildet hat. Menschen und ihre Gemeinschaften sind komplexe Wesen, sie zu hundert Prozent auf ihre Religion zu reduzieren scheint zwar derzeit schick zu sein, greift jedoch zu kurz. Es sind soziale Wesen mit kultureller, politischer, wirtschaftlicher und natürlich religiöser Identität. Als solche müssen sie in diese Gesellschaft endlich einbezogen werden, wie alle anderen Bürger dieses Landes auch. Und diese Einbeziehung schließt eine kritische Auseinandersetzung im Guten wie im Schlechten ein. Alles andere wäre nur eine weitere Form von Diskriminierung.
Was Sie nun predigen ist eine oberflächliche Distanz, ja eine Ignoranz gegenüber einer der Mehrheitsgesellschaft verborgenen Öffentlichkeit, die in Teilen dieser muslimischen Gruppen herrscht. Es ist müßig zu diskutieren, wo die Ursachen für die entstandenen und sich immer mehr verfestigenden Strukturen liegen, denn es kann als Konsens vorausgesetzt werden, dass die fehlende Integrationspolitik Deutschlands auch im religiösen Bereich als eine wesentliche der vielfältigen Ursachen angesehen werden kann. Doch Fehler vergangener Jahrzehnte behebt man nicht, indem man aus falsch verstandener Toleranz neue Fehler begeht. Die von Ihnen gescholtenen Autoren Eberhard Seidel und Ursula Spuler-Stegemann haben das Pech, dass sie sich seit Jahren differenziert und mit großer Sachkenntnis, die Sie ihnen ja auch bescheinigen, mit Strukturen von Gemeinschaften, politischen und soziologischen Hintergründen auseinander setzen und zu Ergebnissen kommen, die zufällig mit dem übereinstimmen, was der Verfassungsschutz sagt. Wir können uns täuschen, aber der Verfassungsschutz bescheinigt DVU und NPD Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus. Wir glauben nicht, dass Sie deshalb Journalisten das Recht absprechen, in ihren Zeitungsartikeln vor DVU und NPD zu warnen. Die deutsche, ja europäische Öffentlichkeit hat Haider als Rechtspopulisten an den Pranger gestellt und war sensibel im Umgang mit der österreichischen Bevölkerung, die ihn gewählt hat. Warum gelingt es Ihnen nicht, sich in der gleichen differenzierten Form mit Religionspopulisten wie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs auseinander zu setzen? Greift Haider nationalistische Stimmungen populistisch auf, so unterscheidet er sich doch in nichts von Funktionären der Milli Görüs, die die nationalistischen durch religiöse Attribute ersetzen. Mit der Religion Islam hat dies überhaupt nichts zu tun, und Milli Görüs ist keine Religionsgemeinschaft, sondern eine politisch-wirtschaftliche Vereinigung. Das Traurige daran ist nur, dass dieser Umstand nicht nur Ihnen, sondern auch zahlreichen einfachen Mitgliedern von Milli Görüs entgeht.
Mit Kommentaren Ihrer Art werden diese Muslime ein weiteres Mal im Stich gelassen und Demagogen ausgeliefert. Sie haben, in Ermangelung eines alternativen Angebotes, kaum eine Chance, ihre religiösen Rechte zu erhalten und zu genießen. Im guten Glauben daran, dass ihre Führer sich für ihre religiösen Interessen einsetzen, sind sie oft bereit, sich völlig unterzuordnen, ihr letztes Geld zu spenden, ihre gesellschaftlichen Kontakte auf das Umfeld der entsprechenden Organisation zu reduzieren und jegliche anders lautende Öffentlichkeit freiwillig zu meiden. Im Gegensatz zum Jugendlichen deutscher Muttersprache, dessen Eltern zum Beispiel Zeugen Jehovas sind, leben viele dieser Muslime in einer sprachlichen und medialen Diaspora. Die Auseinandersetzungen hier in der taz, aber auch in anderen deutschsprachigen Zeitungen und auch Ihr Meinungskommentar läuft an ihnen völlig vorbei. Gelesen und geschaut wird das Medium, das der entsprechenden Organisation nahe steht und das die Funktionäre „empfehlen“. Das ist die Realität vor allem bei bildungsarmen und sozial unterprivilegierten Schichten.
Sie werfen Frau Spuler-Stegemann vor, die Aleviten, die Ahmadiye und die Sufis in den Islam-Dialog mit einbeziehen zu wollen, und weisen diese Forderung mit der zu geringen Anhängerschaft zurück. 500.000 Aleviten in Deutschland, die Sie drei Millionen Muslimen einfach subsumiert haben – ist das für Sie eine relevante Größe? Allein von den ca. 150.000 türkeistämmigen Berlinern zählen sich ca. 40.000 zu den Aleviten. Das Selbstverständnis der Aleviten ist vergleichbar dem des Judentums. Auch die Aleviten begreifen sich nicht nur als Religion, sondern auch als Kultur, Philosophie, als Lebensweise. Die Spannbreite reicht vom orthodox Gläubigen bis zum areligiösen. Allen gemeinsam ist ihre Stigmatisierung durch sunnitisch-türkische Islamisten als Abtrünnige des Islam, Islamverfälscher, Häretiker. Im Unterschied zu manchen Herkunftsländern haben wir in Deutschland aber die große Chance, uns gemeinsam öffentlich mit diesen Feindbildern auseinander zu setzen und im Dialog Aller Wege der Verständigung zu finden. Nur damit können wir verhindern, dass mit diesen Feindbildern Pogrome geschürt werden, wie 1993 im türkischen Sivas geschehen, als 37 Menschen (Intellektuelle, Linke und Aleviten) von einer durch radikale Islamisten aufgeputschten Menge bei lebendigem Leib verbrannt worden sind.
Auch Homosexuelle, Kommunisten, Atheisten, Juden, Bahais usw. haben ein Recht darauf, dass sich diese Gesellschaft mit denen auseinander setzt, die diese Menschen, Gruppen und Religionen zum Feind erklären. Ebenso hat ein Milli-Görüs-Mitglied ein Recht auf unsere Unterstützung, wenn es sich an die Öffentlichkeit wenden will, weil es ihn stört, dass Funktionäre seiner Organisation „Wasser predigen und Wein trinken“. Wir aber sollen ihn allein lassen, laut Ihrem Kommentar, da uns die innere Öffentlichkeit der „Religionsgemeinschaften“ ja nichts anzugehen hat. Das Ergebnis dieser Haltung haben wir hier in Berlin erlebt: soziale Isolierung der gesamten Familie dieses Muslim und drei gewaltsame Überfälle 1998 auf ihn, nachts im Dunkeln von hinten.
CLAUDIA DANTSCHKE , ALI YILDIRIM , Redakteure der deutsch-türkischsprachigen Fernsehanstalt AYPA-TV
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