Befreiende Kraft der Liebe

Selbst seine Mutter nennt ihn nur noch Motte: Matthias Roeingh ist das personifizierte gute Gewissen der Love Parade. Mögen andere von Geld, Lärm oder Müll reden – er sucht den „Draht zum Kosmos“

von ARNO FRANK

Aus der Luft betrachtet, gleicht der Berliner Tiergarten alle Jahre wieder während der Love Parade einer riesigen Petrischale, gleichen die kreisenden Massen um die Siegessäule einer Amöbe kurz vor der Teilung – eine primitive Lebensform, die kaum kontrolliert und noch weniger angesprochen werden kann. „Na, wie fühlt ihr euch?“, fragt Dr. Motte trotzdem und gibt dann das Motto der Saison aus: „Peace on earth“, „We are one family“ oder „Music is the key“.

Was für die einen der dadaistische Höhepunkt des Irrsinns, das ist für andere der Segen, den ein hedonistischer Gegenpapst der Stadt und dem Weltkreis ausspricht. Mit einem Budget von knapp 800 Mark, einem einzigen Lkw und dem Motto „Friede, Freude, Eierkuchen“ zog der Tross der Traumtänzer 1989 erstmals über den Kurfüstendamm – angemeldet als Demonstration, um die zahlreichen Auflagen zu umgehen, die einer solchen öffentlichen Veranstaltung ansonsten geblüht hätten. Anlass war damals der Geburtstag von Matthias Roeingh. Heute, elf Jahre später, nennt ihn selbst seine Mutter nur noch Motte. Obwohl er kein Popstar ist, gilt der Initiator der Love Parade als Kultfigur. Er liefert die griffigen Slogans, den esoterischen Überbau und das lebende Maskottchen einer Veranstaltung, zu der dieses Jahr 1,5 Millionen Raver und Einnahmen von über 300 Millionen Mark erwartet werden. Statt über Probleme wie Müllbeseitigung, Lärmbelästigung und Umweltverschmutzung zu diskutieren, spekuliert Motte lieber über das „morphogenetische Feld“ aller Raver und sich selbst als „kosmischen Kanal“, durch den das Gute in die Welt kommt.

Matthias Roeingh selbst kommt am 9. Juli 1960 in die Welt und wächst in Spandau auf, mit Halbschwester Bettina und allein erziehender Mutter, die ihren Job im Spandauer Planungsamt bald krankheitsbedingt aufgeben muss. Die Situation der Familie wird dadurch nicht besser, Roeingh verlässt die Schule nach der mittleren Reife „mit mittelmäßigem Zeugnis“. An einer Schule für Graphikdesign wird er abgelehnt, versucht’s beim Planungsamt, schmeißt hin und macht schließlich eine Ausbildung zum Betonbauer. Nach einer kurzen Ehe kehrt er Anfang der 80er dem bürgerlichen Dasein endgültig den Rücken und schließt sich der Punkband „Die Toten Piloten“ an. Dort dilettiert er als Percussionist und kommt zu seinem Spitznamen – der eine Matthias wird Matze genannt, der andere Motte.

1986 eröffnet er mit Freunden einen eigenen Club, die Turbine Rosenheim, wo er erstmals selbst Platten auflegt. Als professioneller DJ organisiert er 1988 die erste Acid House Party in Berlin, 1989 dann die erste Love Parade unter dem aufreizend sinnfreien Slogan „Friede, Freude, Eierkuchen“. Friede steht dabei für „Weltfrieden und Abrüstung“, so Motte, „Freude für Völkerverständigung durch Musik und Eierkuchen für gerechte Nahrungsverteilung“.

Wer dieses schwammige Anliegen für kindischen Unfug hält, hat Recht. Und doch wieder nicht. Denn Matthias Roeingh glaubt an seine Mission, er glaubt an Dr. Motte, und das ist sein Job: Als personifiziertes gutes Gewissen mit der stoischen Inbrunst des Narren für die vermeintlich gute Sache zu trommeln. Nach Sinn und Zweck der Love Parade gefragt, spricht Motte nicht über Sponsoring oder Finanzen, sondern schwärmt mit weichen Worten von der „befreienden Kraft der Liebe“, der kathartischen Wirkung des archaischen Tanzes und seine eigene Rolle als reines Medium göttlicher Liebe und „Draht zum Kosmos“.

Weil aber „Draht“ kein geschützter Beruf ist, dient er den Organisatoren der Love Parade als kreativer Berater – die Verhandlungen führen Profis wie Ralf Regitz, der Geschäftsführer des Veranstalters Planetcom. Leute wie der Berliner Innensenator Eckehardt Werthebach (CDU) wollen eben mit Zahlen, nicht mit Mantras überzeugt werden. Den Medien hingegen gibt Motte, was die Öffentlichkeit verlangt, und gibt recht überzeugend die erleuchtete Leitfigur einer ideell ansonsten recht unterbelichteten Veranstaltung. Und die Öffentlichkeit dankt es ihm – so etwa der Burda-Verlag voriges Jahr mit einem Bambi oder die Berliner Republik mit einer Motte-Gipsbüste im deutschen Pavillon auf der Expo.

Ein krudes Amalgam aus verschiedenen Naturreligionen, Buddhismus und esoterischen Gemeinplätzen ist nicht nur das Sinn stiftende Deckmäntelchen der Love Parade – es ist Mottes private Überzeugung, die sich auch in der Einrichtung seiner Wohnung niederschlägt. Goldene Buddhas brüten neben indischen Gottheiten und psychedelischen Skulpturen, die mexikanische Indios „im Drogenrausch“ angefertigt haben, wie Motte erklärt. Aus Heilsversprechen jeder denkbaren Kultur hat sich der Betonbauer seine Privatreligion gegossen – und träumt von einem spirituellen Rahmenprogramm der Love Parade, mit dem Dalai Lama als Ehrengast.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass Erfahrungen mit LSD und halluzinogenen Pilzen einen gut Teil seiner frommen Denkungsart bedingt haben – eine jener Drogenkarrieren, die nur selten in einem Kreuzberger Loft enden. Dort entwirft er nun am Computer Bildschirmschoner und elektronische Musik – ein Frührentner mit lukrativen Hobbys. Seine Hände kann er in Unschuld waschen. Über Waschbecken aus Beton, selbst gegossen.