: 63 Zeilen Zufall
Paul Austers gesammelte Essays zu Leichtigkeit und Schreibzwang in der Literatur
So. Nun schlagen wir zufällig eine Seite im neuen Essayband von Paul Auster auf: Da, Seite 116 ist es geworden. Auf ihr beginnt eine kleine Einführung Austers in die französische Dichtung im 20. Jahrhundert, und eigentlich erlaubt sie nicht wirklich einen guten Einstieg in diesen Band. Nur zeigt sich auf ihr gut die Bildungsbeflissenheit, die den Autor zumindest in jungen Jahren eben auch auszeichnete: „Ohne die Ankunft von William und seiner Armee auf englischem Boden im Jahre 1066 hätte es die englische Sprache, wie wir sie kennen, niemals gegeben.“ Aha.
Der Zufall spielt bekanntlich in den Büchern Paul Austers eine große Rolle; so auch hier. Der letzte Essay in dem neuen Band trägt schlicht den Titel „Warum schreiben?“. Wer eine ernste Abhandlung über den Zwang zur Schriftstellerei erwartet, wird enttäuscht: Tatsächlich beschreibt Auster nur fünf große Zufälle. Einmal, das ist der letzte Zufall, trifft er als Achtjähriger sein Baseballidol Willie Mays, der ihm ein Autogramm geben will: „ ‚Sicher, Junge, sicher‘, sagte er. ,Hast du was zum Schreiben?‘ “ Aber der kleine Paul hatte keinen Stift bei sich. Von da an hatte er immer einen Bleistift in der Tasche. Der letzte Satz: „Wie ich meinen Kindern gern erzähle, bin ich auf diese Weise zum Schriftsteller geworden.“
Das ist Paul Auster, der Trickser, gleichzeitig ernst und augenzwinkernd. Die früheren Essays behandeln aber zum Beispiel Knut Hamsum und Franz Kafka, und in ihnen sieht man, aus wie viel unbedingter Kunstgläubigkeit sich Auster zur Federleichtigkeit emporarbeiten musste. Das berührendste Stück der Sammlung heißt „Mallarmés Sohn“. Es handelt davon, wie aus Leiden Literatur entstehen soll und wie die Literatur den Autor in Zeiten der Krise dann doch im Stich lässt. Austers Leichtigkeit wandelt über Abgründe. drk
Paul Auster: „Die Kunst des Hungers“. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2000, 270 Seiten, 22 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen