: Drucker am Drücker
Die „Berliner Zeitung“ will ihre ehemaligen Ost-Abonnenten wiederhaben. Dafür machen ihre neuen Marketing-Gurus auf persönlich und schreiben ganz lange Briefe, für die kein Klischee zu schade ist
von STEFFEN GRIMBERG
Wer kennt Walter Engelhard? Herr Engelhard druckt nach eigener Auskunft die Berliner Zeitung. Und manchmal schreibt er auch Briefe – an frühere Leserinnen und Leser des Blattes. Genauer: an ehemalige LeserInnen der Berliner Zeitung aus dem früheren Ostberlin, die ihr Abonnement in den letzten Jahren gekündigt haben. Denn das haben einige: Seit 1993 ging die Abo-Auflage der Zeitung um rund 54.000 Exemplare zurück. Die Kündiger kommen überwiegend aus den östlichen Berliner Bezirken. Viele von ihnen können sich das Blatt schlicht nicht mehr leisten, anderen sagt es offenbar inhaltlich nicht mehr zu.
Gerade an Letztere wendet sich Walter Engelhard in seinen individuell an einzelne Kündiger gerichteten Briefen: „Es ist kurz vor Mitternacht“, schreibt der Drucker am 10. Juli 2000 aus Berlin-Lichtenberg, „und gerade läuft die morgige Lokalausgabe für Berlin-Mitte. Da man bei den neumodernen Druckmaschinen nicht mehr ständig dabeistehen muß, habe ich ein paar Minuten Zeit, um Ihnen zu schreiben.“
Und das tut er, auf dreieinhalb (!) eng beschriebenen Seiten, garniert mit Unterstreichungen und Tintenklecksen.
Oder ist es Herzblut? Denn Walter Engelhard ist „seit über 20 Jahren bei der Berliner Zeitung“. Und er sorgt sich über die gegenwärtige Lage: „Ich mußte auch mit ansehen, wie die Berliner Zeitung nach der Wende fast den Bach heruntergegangen wäre (...). Und ich habe erlebt, wie ein mutiger Verlag viele Millionen Mark investiert hat, um die Berliner Zeitung (und damit ein echtes Stück Berlin) zu retten (...). Kein Wunder also, wenn wir hier immer der festen Überzeugung waren, daß gerade unsere Stammleser von früher diesen Kraftakt ganz besonders anerkennen würden. Ihre Kündigung vor einiger Zeit hat mir nun gezeigt, daß dies offenbar nicht immer der Fall ist.“
Und dann folgt ein Appell, es doch noch einmal mit dem „Vorzugsprobeabo“ für 16 Mark im Monat zu versuchen, garniert mit Legenden und Ostklischees:Vom „Schreiben zwischen den Zeilen“ im ehemaligen „Organ der Bezirksleitung Berlin der SED“ (dies ist allerdings kein Zitat aus dem Engelhard-Brief), vom Leser, der alle acht Vorwende-Seiten gierig verschlang und mit den heutigen Umfängen nicht mehr zurechtkommt („Aber das ist doch gerade das Tolle! Natürlich kann man nicht mehr die ganze Zeitung durchlesen. Aber man hat jetzt doch die Wahl“), der sich über Anzeigen ärgert und im Jahr Elf nach der „Wende“ nochmal über deren Sinn und Zweck aufgeklärt wird: „Zugegeben: Das stört mich auch manchmal. (...) (Doch) hätten wir die Anzeigen nicht, würde die Zeitung wahrscheinlich über 5 Mark pro Ausgabe kosten.“
Mutig war die Bertelsmann-Tochter Gruner + Jahr bei der Übernahme des Berliner Verlags 1990 übrigens nicht, schließlich sicherte man sich so die bis heute auflagenstärkste Tageszeitung Berlins – und deren Abonnenten-Kartei.
Mutig ist höchstens eine Marketing-Abteilung, die sich solche Kampagnen ausdenkt. Und Walter Engelhard? Den kennt nicht mal das Personalbüro des Berliner Verlages.
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