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„Mario, Mario – aaaaaaaaaa“

Das Nazi-Problem ist gelöst. Einfach mehr Kultur schaffen. Eine Busfahrt in die Oper

Er war stolz darauf, im Blut-Bomber zu sitzen. Auf dem Weg in die Oper. Berlin. Herz der deutschen Nation

„Berlin muss ins Umland ausstrahlen, die Abschottung gegen die Stadt ebenso auflösen, wie die Xenophobie, und zur Identifikation mit der reichen Kultur, der eigenen wie der fremden, einladen. Einladen könnte man wörtlich auffassen. (...) Denkbar wären, nach dem Vorbild des US-amerikanischen ‚bussing‘ für schwarze und weiße Schüler, Kulturbusse, die ihr Publikum aus Bitterfeld oder den Banlieues abholen und zum Berliner Ensemble, zur Schaubühne, zur Oper, zur Kuppel des Bundestages einladen, gratis.“ (Caroline Fetscher, „Der Tagesspiegel“, 30. 7. 2000)

„88! Hallo Mario! Auch wieder im Blut-Bomber?“ Frank klopfte zur Begrüßung mit dem Fingerknöchel seines Zeigefingers gegen das Hakenkreuz, das sich Mario neben die Schläfe hatte tätowieren lassen. Frank trug ein gotisches „White Power“ im Nacken. Er warf sich neben Mario in die letzte Sitzreihe. Mario antwortete ihm halbherzig mit dem deutschen Gruß: „88!“ Das dritte Mal „Tosca“. Er war stolz darauf, im Blut-Bomber zu sitzen. Auf dem Weg in die Deutsche Oper. Berlin. Herz der deutschen Nation.

„Putschini“, grinste Frank, und Mario wandte sich gelangweilt ab. Er wusste, jetzt kam die Geschichte mit den Weibern. „Is’ zwar Italienerin, aber klasse.“ Mario hasste Frank dafür, wie er über Floria Tosca sprach. „Und Sabines Titten kommen immer gut.“ Sabine hielt vor jeder Oper einen Einführungsvortrag für die Glatzen, die aus Bitterfeld, Senftenberg und Luckenwalde nach Berlin gefahren wurden. Im Blut-Bomber. So hatte ihn die Kameradschaft getauft. Eigentlich hieß die Buslinie: „Banlieue-Bussing / Berlin-Bitterfeld“. Aber solch einen undeutschen Scheiß konnte doch niemand aussprechen. So was konnte nur einer Kultur-Fotze einfallen, dachte Mario. Er hatte keine Ahnung davon, aber wurde den Verdacht nicht los, dass der Bus nur wegen der vielen Bes so hieß.

Am Anfang hatte er sich heftig gewehrt. Doch sein Anwalt hatte ihm klargemacht, dass er unter fünf Jahren nicht wegkommen würde. Mario fühlte noch einmal, wie das Auge platzte. Seine Faust wurde feucht von dem schwarzen Dreckssaft. Mit einem Schlag hatte er der Garnele das Auge rausgeschlagen. Und es hatte gut getan. Aber fünf Jahre waren zu viel, und so war er in den Bus geraten. Fremde Kultur. „Warum kein Wagner?“, hatte er seinen Anwalt gefragt, doch der zuckte nur mit den Schultern und zeigte ihm Bilder von dem Ghanaer im Krankenhaus. Saubere Arbeit. Dann setzte der Richter die Jugendstrafe zur Bewährung aus, und jetzt war er zweimal die Woche hier. Mit den Kameraden. Eine zermatschte Zecke, die Asis und die Fidschis. Und sein Garnelen-Auge. Fast 150 Jahre auf Bewährung.

„Tosca, diese große humane Frauengestalt“, grölte ihm Frank jetzt ins Ohr, und er wusste, dass Frank nichts davon verstand, was Sabine ihnen erzählt hatte. „Tosca muss das tun ...“, versuchte Mario es eine Spur zu zaghaft, und sofort fiel Frank über ihn her: „Tun, tun – öfter ficken, hilft immer!“ Wieder stieg Hass in Mario auf. „Vissi d’arte, vissi amore“, schoss es ihm durch den Kopf. Und er brauchte jetzt genauso viel Kraft, Frank nicht die Nase zu brechen, wie zuletzt bei Toscas Arie, als er die Tränen kaum stoppen konnte. Aber Frank hatte neben ihm gesessen und ihn beobachtet: „Ich lebe für die Kunst, ich lebe für die Liebe. Ja, Scheiße“, hatte er auf der Rückfahrt getönt und den Rest aus der Doppelkorn-Flasche hinuntergeschüttet.

Am Horizont tauchte Berlin auf. Mit einem strahlend weißen Taschentuch brachte Frank seinen Stiefel zum Glänzen. Mario überkam wieder dieser Schauer wie im Schlussakt. Mario Cavaradossi war ein Arschloch. Aber Tosca liebte ihn. Er wird erschossen. Und sie weiß es nicht. Sie glaubt an einen Trick. Geht auf ihn zu: „Mario, Mario – aaaaaaaaaa ...“ Erkennt, dass er tot ist. Spoletta kommt. Will sie verhaften. Sie springt von der Engelsburg. Stirbt. Für die Liebe. Tosca ist keine Italienerin. Tosca ist eine anständige Frau.

Mario lehnte sich zurück, schloss die Augen. Er spürte, dass irgendetwas nicht stimmte mit ihm. Er freute sich auf den Moment, wenn er zum Kronleuchter starrte, wo nur noch leise rötliche Blitze durch die Kerzen zuckten, bis sie gänzlich erloschen. Der Vorhang hob sich. Die Pauke, die Trompeten zogen in den Kampf. Das war es. So musste man sich in einer national befreiten Zone fühlen. Mario öffnete die Augen, und der Blut-Bomber stoppte in Berlin, Unter den Linden. MICHAEL RINGEL

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