: Wer irren möchte, der irre!
Die Israelin Zeruya Shalev erzählt davon, wie viel Gewalt und Selbstzerstörung der absoluten Hingabe innewohnt: der vertrackte Roman „Liebesleben“
von ANGELIKA OHLAND
Dies ist ein atemloses Buch. Nie kommt es zur Ruhe. Erzähltechnisch lässt sich dieses Tempo leicht erklären: Es ist die Atemlosigkeit der Ich-Erzählerin, der 23-jährigen Ja’ara, die sich durch die Affäre mit einem alten Freund ihres Vaters aus der sicheren Umlaufbahn ihres Lebens herauskatapultiert. Aber was bedeutet das hier schon: erzähltechnisch? Denn für Techniken interessiert man sich in diesem Roman eher weniger.
Ja’ara prustet ihre Geschichte heraus, sie schleudert uns ihr Leben entgegen. „Er war nicht mein Vater und nicht meine Mutter, weshalb öffnete er mir dann ihre Haustür, erfüllte mit seinem Körper den schmalen Eingang, die Hand auf der Türklinke, ich begann zurückzuweichen, schaute nach, ob ich mich vielleicht im Stockwerk geirrt hatte, aber das Namensschild beharrte hartnäckig darauf, dass dies ihre Wohnung war, wenigstens war es ihre Wohnung gewesen, und mit leiser Stimme fragte ich, was ist mit meinen Eltern passiert, und er öffnete weit seinen großen Mund, nichts ist passiert, Ja’ara, mein Name rutschte aus seinem Mund wie ein Fisch aus dem Netz, und ich stürzte in die Wohnung, mein Arm streifte seinen kühlen glatten Arm, ich ging an dem leeren Wohnzimmer vorbei, öffnete die verschlossene Tür ihres Schlafzimmers.“
Ein Satz, ein Absatz. Und zwei Bilder: Ja’ara im Netz, Ja’ara, die dem Netz entschlüpft. Der Roman hat noch gar nicht richtig begonnen, da hat „er“ mit dem ersten Satz schon den gesamten Raum ausgefüllt: den realen Raum des schmalen Eingangs, den Gedankenraum Ja’aras, den Handlungsraum des Romans. Die Bewegungen in diesem einen Satz werden sich nun endlos wiederholen: Er steht fest, sie weicht zurück – sie will nicht weichen und stürzt an ihm vorbei. Und dann diese Berührungen: Ihr Arm streift seinen, sein Körper ist massiv. Später: Sie ist elektrisiert, er greift zu. Auch das ganze Beziehungsgeflecht ist im ersten Satz bereits angelegt: Arie und Ja’ara, Arie und ihre Eltern, die Eltern und ihre Tochter.
Arie und Ja’ara: Was treibt sie aufeinander zu? Warum wird sie ihm hörig? Warum ist er so kalt? Und ist er kalt? Ist sie hörig? Klar ist: Die auch sexuell Grenzen sprengende Affäre mit dem viel älteren Arie mit seiner „wilden, unangenehmen Männlichkeit“ zerstört ihre Ehe, ihre berufliche Zukunft. Aber sie besteht auf ihr Recht, sich verführen zu lassen, sich zu irren und dafür zu leiden. „Wer irren möchte, der irre!“, zitiert Ja’ara, was Gott zu Moses sagte. Nur: Als nach den Irrtümern das Leid über sie kommt, erträgt sie es nicht.
Es ist viel von Liebe die Rede in diesem Buch und davon, dass der Gedanke an sie „viel großartiger ist als die Liebe selbst“. Wenn es um Sex geht, dann heißt es, dass die Erinnerung an ihn viel mehr erhitze, „als die tatsächliche Handlung es getan hatte“. Und wie die Liebe und der Sex, so das gesamte Leben: „Vielleicht war es viel erregender, sich Sachen vorzustellen oder sie im Gedächtnis wiederaufleben zu lassen, als sie tatsächlich zu erleben, denn so hatte man die vollkommene Herrschaft über die Situation.“ Die Herrschaft über die Situation. Vom Baum kosten, ohne aus dem Paradies vertrieben zu werden: Das ist es, worum es in „Liebesleben“ letztlich geht. Es ist ein Aufschrei gegen die Illusion einer Sicherheit, für die Ja’aras Mutter mit ihrer Schönheit bezahlt hat. Doch gleichzeitig führt der Roman vor, wie jämmerlich es tatsächlich ist, die Herrschaft über das eigene Leben zu verlieren, wie viel Gewalt und (Selbst-) Zerstörung der absoluten Hingabe innewohnt. Vertrackt.
Aber Zeruya Shalev gibt sich mit ihrer Hauptfigur nicht zufrieden. Sie spiegelt das Drama von Hingabe und Schuld an biblischen Texten – die Brücke baut sie mit Hilfe des Studiums, das Ja’ara unbedingt beenden will. Und Ja’ara beißt sich fest an der Geschichte vom Zimmermann, dessen Gehilfe ihm die Frau ausspannt und dem in der Regel alles Mitgefühl gehört. Doch Ja’ara verweigert sich der üblichen Deutung: „Es ist das leichteste, Mitleid mit dem betrogenen, erniedrigten und weinenden Ehemann zu haben, aber wie ist es möglich, die grausamen, schicksalhaften Details zu ignorieren? Diese Geschichte führt ihre Leser in die Irre, stellt sie auf die Probe“.
Eine solche Probe ist auch die Geschichte von Arie und Ja’ara. Zeruya Shalev erzählt sie allerdings nicht als Gleichnis, und gerettet wird am Ende niemand. Ja’ara bleibt nur die Wahl zwischen der Schuld, andere zu verletzen, und der Schuld, nicht richtig gelebt zu haben.
Zeruya Shalev: „Liebesleben“. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin Verlag, Berlin 2000, 368 Seiten, 39,80 DM
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