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Nicht-Schwitzer im fließenden Kontinuum

Minimalismus, Feminismus, Dekonstruktivismus und Ironie: Die Tänzerin und Filmemacherin Yvonne Rainer hat die amerikanische Performance-Szene seit den Sechzigerjahren entscheidend beeinflusst. Auf Einladung von „Tanz im August“ führt die 66-jährige Künstlerin einen „Bühnendialog“ in Berlinvon ANKE KEMPKES

Yvonne Rainer ist hier zu Lande vor allem durch ihre späteren Filme „Privilege“ (1990) und „Murder and murder“ (1996) bekannt, in denen es um teils autobiografische Themen geht: etwa die gesellschaftliche Sanktionierung des alternden weiblichen Körpers oder die spezifischen Konstellationen lesbischer Liebe von älteren Frauen. Vor ihren – mittlerweile kanonisierten – feministischen Filmarbeiten arbeitete Rainer jedoch als Tänzerin und Choreografin. Bereits Anfang der Siebzigerjahre konnte sie auf eine zehnjährige Karriere zurückblicken, die sie in ihrem legendären Buch „Works 1961 – 73“ in Form einer „Selbst-Archäologie“ rekonstruierte.

Yvonne Rainer kommt aus einer Familie italienischer und polnisch-jüdischer Immigranten, die in einem Arbeiterviertel von San Francisco lebte. Ihr Vater war Anarchist und Malermeister. Ihre Mutter hatte sie früh zu allen möglichen kreativen, auch zu akrobatischen Ausbildungen angehalten. Ihr Bruder verkehrte in anarchistischen Bohème-Zirkeln, zu denen sie früh Zugang fand: alles in allem ein unorthodoxes, libertinäres Milieu und sicher nicht unbedeutend für die Entwicklung eines eigenwilligen, unabhängigen Kopfes.

Eine Schauspielausbildung brach Rainer ab, um 1956 nach New York zu gehen, wo sie mehr oder weniger zufällig beim Tanz landete. Als Schülerin an der Graham-School kam sie bald mit Merce Cunningham in Kontakt, der ihr Lehrer wurde. Doch die junge Tanz-Szene in New York war Anfang der 60er-Jahre schon sehr an neuen Experimenten interessiert – Cunningham stand für ein hierarchisches Ausbildungssystem, das von einem Netzwerk selbstbestimmter Workshops abgelöst werden sollte. Rainer teilte sich ein Studio mit der Tänzerin Simone Forti und dem Künstler Robert Morris, hatte ihre langjährige Tanzpartnerin Trisha Brown in Ann Halprins kalifornischem Improvisations-Workshop kennen gelernt und dort mit dem Komponisten La Monte Young gearbeitet. Aus diesen Aktivitäten entstand das Judson Dance Theater als ein Ort der minimalistischen Tanz-Avantgarde, die sich als jüngere Generation auch von der Cunninghamschen Reform des Modern Dance verabschiedete.

Der neue Tanz – jetzt begriffen als Performance – war geprägt durch Absagen: Man war gegen den disziplinierten Ballett-Körper, gegen Illusionismus, gegen Expression, gegen Charakterdarstellung und Erzählung, gegen Glamour und gegen Camp. Rainer blickte später amüsiert auf den Puritanismus der Minimal-Szene zurück, aber sie bestand weiterhin darauf, die rigiden Absagen seien mit „äußerster Leidenschaft“ und in intensiver Auseinandersetzung mit den Vorgängern verbunden gewesen.

Unter anderem bedingt durch den „Mangel“, trotz ihres oft gepriesenen Bühnencharismas körperlich nicht den Normen traditioneller Tanzanforderungen zu entsprechen, konzentrierte sich Rainer zunehmend auf Choreografie und Theorie. 1966 entwickelte sie das Solo „Trio A“, das als Herzstück des immer weiter wuchernden Projekts „The Mind is a Muscle“ Geschichte schreiben sollte. Dieses Solo war die Quintessenz von Rainers neuer Choreografie-Theorie, die sie in dem Aufsatz „Ein Quasi-Überblick über einige ‚minimalistische‘ Tendenzen in den Tanz-Aktivitäten inmitten der Überfülle . . .“ ausformulierte. Die Idee war die Auflösung von Phrasierung: Tänzer sollten nur noch „neutrale Tuende“ sein. Mit dem niedrigsten Energieaufwand – Rainer sprach von „Nicht-Schwitzern“ – sollte der Eindruck eines fließenden Kontinuum von unhierarchischen, „gefundenen“ Bewegungen entstehen.

Das „Trio A“ konnte auch von Nicht-Tänzern ausgeführt werden und fand so unzählige Variationen von Aneignungen. Es war die Zeit der Demokratisierung des Tanzes, die gegen Ende der 60er-Jahre noch dadurch zugespitzt wurde, dass es keine Proben mehr gab, sondern die Probe als Improvisation auf der Bühne stattfand. Yvonne Rainer wurde zu einer der Gallionsfiguren dieser neuen Tanzbewegung. Viele choreografische Errungenschaften, die heute Standard sind, sind in diesem Klima der formalen und sozialen Experimente entstanden.

Rainer selbst verabschiedete sich markanterweise an diesem Punkt des „Hippiesken“ von der Live-Performance und wandte sich dem Film zu. „Lives of Performers“ (1972) war ihr erster langer Spielfilm. Zwar wird diese Entwicklung als die Wiedergewinnung des Erzählerischen in Rainers Werk gesehen, aber die Ironie und Hybridität ihrer ersten Filme wird dadurch erreicht, dass sie weiterhin Elemente ihrer Choreografien einmontiert. Rainer konnte gerade nach den Jahren des Auseinanderdividierens und Neutralisierens von Performer und Person, von Ausdruck und Bewegung bei einer eigenen Art dekonstruktivistischer Erzähltechnik ankommen, die ihr weiteres Werk bestimmen sollte.

Auf Einladung des „Tanz im August“-Festivals wird Yvonne Rainer dieser Tage mit dem Berliner Tänzer Xavier Le Roy zusammentreffen und sich in zwei Bühnendialogen ihren früheren Performance-Ansätzen erneut annähern.

Zwischenrufe 3 & 4: Yvonne Rainer/Xavier Le Roy, heute und Sa., 26.8., jeweils um 18:00, Podewil, Klosterstraße 68-70, Mitte. Yvonne Rainer zu Gast im Kino Arsenal, Potsdamer Straße 2, Tiergarten: morgen, 19:00, „Lives of Performers – A Melodrama“, USA 1972, anschließend Diskussion. Um 21:00 „Murder and murder“, USA 1996

Hinweis:Die Idee war die Auflösung von Phrasierung: Tänzer sollten neutrale Tuende mit gefundenen, unhierarchischen Bewegungen sein

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