: Leerläufe mit Gehalt
Wenn kontemplatives Gehen an die Stelle der Choreographie tritt und es keine klar abgegrenzte Rollenverteilung mehr zwischen Akteur und Publikum gibt: Lole Gessler mit seinem „Vortrag über etwas“ im Ballhaus Naunynstraße
Für Lole Gessler sind Stille und Klang ein und dasselbe. In seinem „Vortrag über etwas“, der einen Text von John Cage zitiert, macht er den inneren Zusammenhang zwischen Stille und Klang sichtbar. Gessler liest, wechselt zwischen Sprache und Pause, lässt Leerläufe zu, in denen scheinbar nichts passiert, wiederholt Textstellen, bis es kaum noch erträglich ist. Die Monotonie des Gehörten erzeugt eine Situation, in der Sprache nicht mehr als Funktion des Inhalts, sondern in ihrer Musikalität wahrgenommen werden soll. Gessler ist Performer. Er geht lesend durch den Raum, ununterbrochen, eine Stunde lang. Sein Körper zeichnet ein imaginäres Viereck, das sich um das Publikum spannt.
Theater im herkömmlichen Sinne ist das nicht. Gesslers Performance-Praxis hebt die gewohnte Trennung zwischen Bühne und Saal auf, die klare Rollenverteilung zwischen Akteur und Publikum. Der Zuschauer kann mitmachen, es steht ihm frei, in die Sprach- und Denkpausen des Vortrags einzutreten.
„Was passiert, wenn es nur still ist, wenn nichts passiert? Die Leute reagieren ganz unterschiedlich auf meinen Versuch: Manche sind beeindruckt, aufgewühlt oder entspannen sich, andere fühlen sich provoziert, reagieren genervt oder aggressiv und verlassen den Saal.“ Gessler erinnert sich an seine erste John-Cage-Performance vor vier Jahren. In der Baracke des Deutschen Theaters las er den „Vortrag über Nichts“ und umrundete sein Publikum im Kreis. Da lernte er, die selbst herbei gerufene Konfrontation auszuhalten. Dieser Tage liest er den „Vortrag über etwas“ im Ballhaus Naunynstraße, und er weiß nicht, wie die Reaktionen der Zuschauer ausfallen. Gessler sucht weiter, nach neuen Möglichkeiten eines „nichttheatralen“ Ausdrucks. „Im Theater und auch im Tanz wird meistens eine Geschichte erzählt. Die Geste wird der Dramaturgie, den Anforderungen einer Geschichte, unterstellt. Ich suche einen Ausdruck, der ganz für sich steht und nichts Äußeres erzählen muss. Die Geste als solche erzählt genug.“
Gessler kommt vom Tanz und Schauspiel, studierte Komposition bei Dieter Schnebel an der HdK, arbeitete in der Tanzfabrik Kreuzberg und in New York. Irgendwann merkte er, dass er „woanders hin wollte, weg von der Ästhetisierung der Bewegung“. Die einfache, alltägliche, unreflektierte Geste, mit der die Kellnerin die Rechnung auf den Tisch legt, zum Beispiel, die fasziniert ihn. So versucht der Vierzigjährige in seiner Bewegungsarbeit natürlich und im untheatralischen Sinne banal zu sein. Er passt seine Bewegungen dem Rhythmus des Sprachmaterials an, verbindet Gehen und Rezitation, und situiert seinen Körper im Raum, ohne Erzählung. Seine Gesten nehmen die Musikalität des Textes auf und geben sie weiter, spontan, bedeutungsfrei.
„Kontemplatives Gehen“ rückt hier an die Stelle der Choreografie: „Gemeint ist das stundenlange Gehen und Lesen der Mönche in den mittelalterlichen Klöstern. Das war, neben dem gregorianischen Gesang, spirituelle Praxis, die wiederbelebt werden kann, allerdings in zeitgenössischen Formen“, sagt Gessler und meint, dass es in den großen Städten einen Hunger gebe nach Spiritualität. JANA SITTNICK
Von Do. bis Sa., jeweils 20 Uhr, Ballhaus Naunynstraße 27, Kreuzberg
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