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Antisemitismus der Verlierer

betr.: „Antisemitische Haltung“, Kurzmeldung vom 8. 9. 00

Sollte man, wenn man über die „antisemitische Haltung“ von Jugendlichen schreibt, nicht eine Tatsache besonders hervorheben – die völlige Ahnungslosigkeit der Jugendlichen, was Judentum überhaupt bedeutet und ist? Ich empfinde einen Satz wie: „Danach ist jeder zehnte Jugendliche eindeutig judenfeindlich eingestellt“ wirklichkeitsverzerrend, unreflektiert. Die Jugendlichen sind vielleicht eindeutig ungebildet und verführbare Verlierer dieser Gesellschaftsordnung. Die Formulierung, die Jugendlichen seien eindeutig judenfeindlich eingestellt, erweckt jedoch den Eindruck, als gebe es auch einen eindeutigen Grund dafür, der bei den Mitbürgern jüdischen Glaubens zu suchen sei.

Judenfeindlichkeit ist ohnehin eine bemerkenswerte Erscheinung: Zum einen leben heute in Deutschland entschieden und entscheidend viel weniger Juden als zur Zeit der Weimarer Republik. Zum anderen wird auch unter den Menschen jüdischen Glaubens die Säkularisierungstendenz nicht Halt gemacht haben. Wie viele Menschen, die auf dem Papier Juden sind, leben denn diese Religion noch?

Zum Vergleich: Genauso „begründbar“, wie die Judenfeindlichkeit wäre eine Katholikenfeindlichkeit. Wenn man heute auf der Straße einen durchschnittlichen deutschen Staatsbürger anhält und dafür beschimpft, dass Kardinal Ratzinger in Rom versucht, den exklusiven Stand seines Vereins zu retten, dann spräche eines dafür: Er ist – mit ein bisschen Glück – römisch-katholisch. Und vieles dagegen: Er hat nach seinem achten oder neunten Lebensjahr keine Kirche mehr von innen gesehen, hat kirchlich geheiratet, weil es so schön ist, und seine eigenen Kinder taufen lassen, weil seine eigenen Eltern es auch so gemacht haben. Mit dem, was er auf dem Papier ist – nämlich römisch-katholisch – hat er aber nichts mehr zu tun. Völlig absurd, diesem Menschen irgendeine mit diesem leeren Status zusammenhängende Gefühlsregung entgegenzubringen. ROLF HOLLERING, München

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